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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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sein. Victor hatte verkündet, mein Haus sei für seine Familie am besten geeignet; seine Frau wolle allerdings Granitplatten statt Klinker in der Küche. Das alte Farmhaus, in dem mein Vater sein Leben lang gewohnt hatte und das über fünfzig Jahre das gemeinsame Zuhause meiner Eltern gewesen war, sollte abgerissen werden.
    Als mir das zu Ohren kam, überlegte ich, ob ich die Tür mitnehmen sollte, auf der mein Vater über Jahre die Größe von uns Kindern angezeichnet hatte.
    Esther, November 1954.
    Naomi, Juni 1955.
    Sarah, Oktober 1959.
    Edwina, Januar 1960.
    Ruth, April 1960. Unsere Bohnenstange!
    Im Laufe der Jahre waren die Abstände zwischen meinen Schwestern und mir immer größer geworden.
    Ich hatte eine andere Abstammung. Und ich hatte das auch schon immer geahnt. Mir fehlte nur noch der Beweis.
    Dann bekam ich einen Brief. Der Absender sagte mir zunächst nichts – Frank Edmunds –, aber als ich den Brief las, wusste ich, wer ihn geschrieben hatte. Frank und ich waren gemeinsam zur Schule gegangen, hatten uns aber nicht näher gekannt. Doch seine Mutter war mir noch deutlich in Erinnerung, denn sie war – wenn man von Dina Shore absah – die einzige Freundin meiner Mutter gewesen. Nancy Edmunds.
    Frank schrieb, seine Mutter sei unlängst verstorben – in einem Pflegeheim in Connecticut, in dem er sie vor einigen Jahren untergebracht hatte, damit er sie häufig besuchen konnte; er selbst wohnte außerhalb von Hartford.
    »Mom hat nicht mehr viel geredet in den letzten Monaten«, schrieb Frank. »Aber sie kam immer wieder auf diesen Brief zu sprechen, den sie vor vielen Jahren geschrieben und seit damals aufbewahrt hatte. Ich musste ihr versprechen, dass ich ihn dir gleich nach ihrem Tod schicken würde. Ich habe ihn also hier beigelegt. Ich selbst weiß nicht, was darin steht, hoffe aber, dass er keine Probleme verursachen wird.«
    Nancy hatte ich zum letzten Mal gesehen, als meine Mutter im Sterben lag. Die Leute aus der Kirchengemeinde hatten in diesen Wochen Eintöpfe und Kuchen vorbeigebracht, aber Nancy war eigens mit dem Bus aus Connecticut angereist, hatte bei meiner Mutter gesessen und sie sogar noch frisiert, als ihre Haare immer dünner wurden. Und sie war auch im Haus, als meine Mutter ihren letzten Atemzug tat.
    Und nun hielt ich diesen Brief von ihr in Händen, auf dem mit krakeliger Schrift mein Name stand.
    Ich öffnete ihn nicht sofort, sondern saß eine Weile da, mit dem violetten Umschlag auf dem Schoß, dachte über Nancy nach und fragte mich, was sie wohl zu diesem Schritt bewogen hatte. Ich hatte Nancy als alt in Erinnerung, doch nun wurde mir bewusst, dass sie jünger als ich jetzt gewesen sein musste, als ihr Mann sich das Leben nahm – an jenem Tag, als Nancy den größten Teil ihrer Habe auf dem Rasen vor dem Haus verkaufte, um die Schulden zu bezahlen, und meine Mutter, meine Schwestern und ich ihr dabei halfen. Meine Mutter stand im Hauskleid neben ihrer Freundin und nahm das Geld entgegen. Sie hatten diese schlimme Lage gemeinsam durchgestanden, die beiden Freundinnen. Und vermutlich noch vieles andere, wovon ich gar nichts wusste.
    Ich ahnte, dass der Inhalt dieses Briefes mein Leben verändern würde. Warum sonst sollte eine Frau, die ich kaum gekannt hatte, ihren Sohn beauftragt haben, mir diesen Brief zukommen zu lassen, sobald sie nicht mehr unter den Lebenden weilte?
    Und so erfasste mich eine Mischung aus Beklommenheit und Neugierde bei der Vorstellung, was die Freundin meiner Mutter mir nach so vielen Jahren mitteilen wollte. Denn die ungeklärteste Beziehung meines Lebens war zweifellos die zu meiner Mutter.
    Nancy Edmunds’ Brief erreichte mich im Frühsommer. Seit Beginn des Jahres lebte ich mit einer seltsamen Wehmut – deren Ursache manche Leute zweifellos in hormonellen Veränderungen gesehen hätten, aber ich wusste, dass mehr im Spiel war.
    Gesundheitlich ging es mir gut. Meine Arbeit als Kunsttherapeutin machte mir durchaus Freude und brachte genug Geld ein, dass wir – in Kombination mit Jims Unterhaltszahlungen – sorgenfrei leben konnten.
    Trotz der Scheidung schienen unsere Kinder zu ausgeglichenen, selbstständigen Menschen herangewachsen zu sein; ich wünschte mir allerdings, Elizabeth würde häufiger anrufen. In dieser Hinsicht – und noch in manch anderer – glich ich meiner Mutter, deren Ein und Alles die Familie gewesen war.
    Ich bedauerte auch, dass meine Schwestern und ich uns nicht näher waren. Obwohl wir auf demselben Grundstück

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