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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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lebten, sahen wir uns meist nur an Feiertagen, und aus der Bindung zwischen meinen vier Schwestern blieb ich noch immer ausgeschlossen, aus Gründen, die ich in all den Jahren nicht verstanden hatte.
    Wahrscheinlich waren wir einfach zu unterschiedlich. Der angepasste, freudlose Lebensstil meiner Schwestern, ihre Neigung zu Aufopferung und die von meinen Eltern übernommene Überzeugung, dass man nicht in diesem, sondern im nächsten Leben Erfüllung finden würde, sogar das Essen, das wir zu uns nahmen – wir hatten kaum etwas gemein außer dem Land, auf dem wir lebten. Und bald würde es nicht einmal mehr diese Gemeinsamkeit geben.
    Mir war schon seit einiger Zeit klar, dass niemand – weder meine Schwestern noch mein Vater, auch nicht mein Exmann und meine Kinder, mein alter Freund Josh oder meine Kolleginnen – mich wirklich kannten. Jedenfalls nicht auf die Art und Weise, wie ich mich selbst in einer einzigen Phase meines Lebens kennen gelernt hatte. Seit über fünfzig Jahren fühlte ich mich in meiner eigenen Familie wie eine Außenseiterin. Und dieses Gefühl hatte mit den Erlebnissen mit meiner Mutter begonnen. Oder eher mit dem, was ich nicht erlebt und entsetzlich vermisst hatte.
    Eine Szene stand mir plötzlich vor Augen. Nancy Edmunds und meine Mutter hatten für sich und ihre Töchter aus identischem Stoff Kleider mit Zackenlitzen und breiten Schärpen zum Zubinden genäht. Ich hatte im Stoffgeschäft das Schnittmuster entdeckt und meiner Mutter in den Ohren gelegen, dass sie es kaufen sollte. Erstaunlicherweise hatte sie sich darauf eingelassen und mir sogar erlaubt, den Stoff selbst auszusuchen. Ich hatte mich für einen mädchenhaften Stoff in Hellgrün und Rosa entschieden. Mit Garnrollen spielende Kätzchen waren darauf abgebildet.
    Das war 1960, zurzeit des Kalten Krieges, kurz vor Ostern. Ich war in der vierten Klasse, und die Lehrerin hatte uns beigebracht, wie wir uns unter den Schultischen verstecken sollten, wenn die Kommunisten eine Atombombe auf uns abwerfen würden. Noch Jahre später fürchtete ich mich, sobald ich ein Flugzeug am Himmel hörte.
    Ich sah genau vor mir, wie ich nach einem besonders bedrohlichen Probealarm von der Schule nach Hause kam und Nancy und meine Mutter in diesen albernen Kleidern mit Puffärmeln, Schleifen am Rücken und bunten Zackenlitzen an Taschen und Saum vorfand.
    Vielleicht hat sich diese Erinnerung im Laufe der Jahre verändert. Aber ich glaube, dass meine Mutter mich in dem Kleid vor der Haustür erwartete, löste auch schon bei mir als Zehnjähriger ein schmerzliches Gefühl aus. Mir wurde in diesem Moment wohl bewusst, dass die Realität häufig mit Wünschen und Vorstellungen – die beiden lächelnden Frauen in den identischen Kleidern – so gut wie nichts gemein hat.
    Ich kam vom Schulbus und rannte mit meinen Lehrbüchern über das Verhalten bei Fallout unterm Arm den Weg zum Haus entlang. Wie immer wünschte ich mir, dass meine Mutter mich erwarten und in die Arme nehmen würde, wusste aber schon, dass es so etwas für mich nie gab. Doch an diesem Tag stand meine Mutter tatsächlich da, in diesem Kleid mit dem Kätzchenmuster.
    In ihrer normalen Kleidung wirkte meine Mutter – die niemals schlank gewesen war – patent, kraftvoll und zupackend. Weder schön noch hässlich, weder dünn noch dick. Sie war einfach sie selbst.
    Doch in dieser Aufmachung – die Puffärmel drückten auf ihre kräftigen Oberarme, der grünrosa Rock betonte ihre Krautstampferbeine, und sie trug ihre soliden braunen Schnürschuhe dazu – fand ich sie plötzlich peinlich und schämte mich. Auch für sie.
    »Zieh deines mal an, Ruth«, rief Nancy Edmunds aus dem Wohnzimmer, wo sie an der Maschine saß und aus demselben Stoff noch ein Kleidchen für die Puppe ihrer Tochter Cassie nähte. An Nancy, die recht schlank war, wirkte das Kleid auch nicht überragend elegant, aber immerhin ansehnlicher. Cassie, die vor ein paar Stunden aus dem Kindergarten gekommen war, hüpfte schon in ihrem Kleid durchs Zimmer. Und bei diesem Anblick fiel mir auf, dass der Stil tatsächlich am besten zu Fünfjährigen passte.
    Meine Mutter konnte normalerweise gut nähen, hatte jedoch einiges an dem Schnittmuster verändert – vermutlich um Stoff zu sparen. Bei meinem Kleid war der Bund ziemlich schmal geraten, und da ich nicht nur groß war, sondern auch einen relativ langen Oberkörper hatte, hing der Bund mit der Schleife irgendwo zwischen Brust und Nabel.
    Ich war zur Anprobe nach oben

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