Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
Vom Netzwerk:
gegangen – bereits mit dem Gefühl, dass diese ganze Sache mit dem Mutter-Tochter-Kleid eine miserable Idee gewesen war. Als ich die Treppe herunterkam, sah man meiner Mutter an, dass sie das auch fand. Nur Nancy hatte offenbar beschlossen, jetzt nicht klein beizugeben.
    »Schau sie dir nur an, Connie«, sagte sie. »Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihr gleicht euch wie ein Ei dem anderen.«
    Und nun, über vierzig Jahre später, öffnete ich ihren Brief an mich.
    Liebe Ruth,
ich muss mir etwas von der Seele reden, das du wissen solltest, wie ich finde.
    Ich weiß, dass ihr es nicht immer leicht zusammen hattet, deine Mutter und du, aber sie hat sich wirklich bemüht, alles so gut wie möglich zu machen. Bis zum Ende ihres Lebens hat sie darum gebetet, dass euer Verhältnis besser wird.
    Das hätte meiner Mutter wirklich ähnlich gesehen, dachte ich. Zu irgendeiner Gottheit zu beten, anstatt mit ihrer heranwachsenden Tochter zu sprechen, um etwas zu verbessern. Gott sollte mal wieder alles richten.
    Doch beim nächsten Satz stockte mir der Atem.
    Sie hat dich geliebt, obwohl du nicht ihre leibliche Tochter warst. Sie hat dich so geliebt, wie es ihr möglich war.
    Ich las den Satz immer wieder und versuchte, ihn zu begreifen. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
    Die Erklärung folgte auf den nächsten beiden Seiten des Briefs:
    Connie wusste es schon an dem Tag, als sie aus der Klinik nach Hause kamen. Sie wusste, dass du nicht das Baby warst, das man ihr nach der Geburt gebracht hatte. Aber sie konnte deinen Vater nicht überreden, etwas zu unternehmen.
    Dann weitere Fakten. Nach wie vor bekam ich kaum Luft vor Aufregung, als ich las:
    Das Kind, das man deiner Mutter zuerst gebracht hatte, wog sechseinhalb Pfund, das Mädchen, mit dem sie nach Hause kam, dagegen acht Pfund.
    Doch wie Tiere haben auch Menschenmütter einen untrüglichen Instinkt für ihre Kinder. Das Kind, das Val Dickerson mit nach Hause nahm, hatte einen stämmigen kurzen Körper, dunkle Haare, dicke Finger – wie deine Mutter – und braun-grün
    gesprenkelte Augen, was bei Babys sehr ungewöhnlich war. Das Mädchen, das deine Mutter als ihre Tochter mitnahm, hatte feine blonde Haare, blaue Augen, lange Beine und lange dünne Finger.
    Ihre wirkliche Tochter – Dana also – war immer hungrig und konnte es kaum erwarten, bis man ihr die Flasche gab. Du dagegen warst unruhig, hast schlecht getrunken und neigtest zu Koliken.
    Deine Mutter sagte auch, du hättest anders gerochen. Mütter bemerken so etwas.
    Da ich selbst zwei Kinder großgezogen hatte, wusste ich, dass sie recht hatte.
    Was nun folgte, war für mich ebenso schwer erträglich wie schwer begreiflich: die Schilderung, wie Connie – die mich dann großzog, obwohl ich nicht das Kind war, das ihr Körper hervorgebracht hatte – den Mann, den ich als meinen Vater betrachtet hatte, von dem Irrtum zu überzeugen versuchte.
    Edwin sagte ihr, man könne es nun nicht mehr ungeschehen machen. Er meinte, man würde den Arzt, einen Freund von ihm aus der Kirchengemeinde, brüskieren, wenn man einen Aufstand anzettelte. Und er meinte, du seist doch so ein hübsches Baby, wesentlich hübscher sogar als deine Schwestern.
    Man sollte die Sache auf sich beruhen lassen, sagte er. Offenbar hatte er beschlossen, dass Gott es so gewollt habe.
    Du kannst dir heute nicht mehr vorstellen, wie das Verhältnis von Mann und Frau damals war. Wer halbwegs bei Verstand war, unterwarf sich dem Willen seines Ehemanns.
    Nun kannte ich also die Wahrheit: Ich war nicht das Kind gewesen, das man Connie Plank in jenem Sommer 1950 nach der Geburt in die Arme gelegt hatte. Doch mich hatte sie zwei Tage später mit nach Hause genommen.
    Und irgendwann während dieser zwei Tage – vielleicht beim Baden? – waren die Geburtstagsschwestern verwechselt worden. Oder es war nachts passiert, als Dana und ich vielleicht gleichzeitig geweint hatten und die Nachtschwester unaufmerksam war. Wie das auch geschehen war: Ich stammte jedenfalls von den Dickersons ab und war als Tochter der Familie Plank betrachtet worden. Und Dana, eigentlich eine Plank, war als Familienmitglied der Dickersons aufgewachsen. Über fünfzig Jahre hatten wir beide unsere wahre Identität nicht gekannt.
    Ich sprach mit niemandem über Nancy Edmunds’ Brief. Ich brauchte Zeit, um darüber nachzudenken. Über ein halbes Jahrhundert hatte ich mich für einen bestimmten Menschen gehalten, und nun stellte sich heraus, dass ich ein ganz anderer war.

Weitere Kostenlose Bücher