Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Ziegen.
»Wir haben uns so sehr geliebt«, sagte ich. »Bis ich sie kennenlernte, wusste ich nicht, dass man solche Gefühle für einen anderen Menschen haben kann. Ich wäre für sie in den Tod gegangen. Noch heute denke ich ständig an sie.«
»So einen Menschen gab es für mich auch einmal«, erwiderte Ray.
Nach ein paar Wochen sagte Ray, er könne nicht mehr auf der Farm bleiben. Er könne die vielen Tiere nicht ertragen, erklärte er. Ich wusste, dass er früher eine Zeit lang auf dieser Insel in Kanada gelebt hatte, aber er kam mit dem Leben auf dem Land offenbar nicht mehr zurecht. Nachts klopfte er oft an meine Tür, weil er irgendein Geräusch gehört hatte und glaubte, auf dem Dach seien Tiere oder jemand versuche ins Haus einzubrechen.
»Mach dir keine Gedanken«, sagte ich dann. »Manchmal sind das Waschbären, aber die tun niemandem was zuleide.«
Die Ziegen machten ihn nervös. Wenn der Kühlschrank brummte, fürchtete Ray, er sei radioaktiv. Einmal fand ich ihn nackt am Küchentisch vor. Seine Kleider hätten ihm wehgetan, sagte er.
Ich hatte inzwischen verstanden, dass es meinem Bruder oft nahezu körperliche Schmerzen bereitete, die Tage durchzustehen. Schon in unserer Kindheit hatte es manchmal Tage gegeben, an denen es ihm schwergefallen war, das Bett zu verlassen. Manchmal war er dann auf sein Einrad gesprungen und für eine Weile verschwunden. Doch damals war das nicht allzu häufig vorgekommen.
Wenn ich an früher dachte, sah ich diesen fröhlichen Jungen vor mir, der so lebenshungrig war, dass er in einem Gewitter nach draußen rannte, auch wenn er dabei klatschnass wurde; einen Jungen, der mich mit einer gefälschten Entschuldigung von der Schule abholte, damit wir rechtzeitig zum Erscheinen der neuen Fats-Domino-Platte im Laden sein konnten.
Als wir in Vermont lebten, entdeckte Ray in einer Vollmondnacht im Frühling, dass junge Wassermolche in Scharen über den Feldweg vor unserem Haus zum Bach auf der anderen Seite wanderten. Er weckte mich mitten in der Nacht, um mir den Marsch dieser wunderschönen Tiere zu zeigen. Ein andermal packte er mich im eisigen Winter in eine Decke und trug mich nachts auf den Schultern nach draußen, damit ich die Mondfinsternis nicht versäumte.
Über seine Zeit in Kanada erzählte er mir so gut wie nichts, aber ich konnte mir vorstellen, dass er dort sogar obdachlos gewesen war. Ich rief ein Psychologiezentrum in Concord an und vereinbarte einen Gesprächstermin für Ray und mich. Dem folgten weitere Termine und Tests. Ray machte alles widerspruchslos mit.
Es stellte sich heraus, dass er schizophren war, und man bot ihm an, in einem Projekt für betreutes Wohnen unterzukommen. Mehrere Menschen mit psychischen Erkrankungen – einige viel jünger, aber auch ein Mann Ende siebzig – lebten dort zusammen und wurden von einem Helfer betreut, der Einkäufe, Rechnungen und dergleichen beaufsichtigte. Ray gefiel das Projekt – was ich erstaunlich fand, da er bislang überhaupt keinen Wert auf die Nähe anderer Menschen gelegt hatte –, und wir unterzeichneten die Papiere. Einige Wochen später wurde ein Platz frei, und er zog dort ein.
Eine von seinen Wohngenossinnen, eine Frau namens Natalie, die an einer Zwangsstörung litt, aber noch arbeitsfähig war und eine Teilzeitstelle in einer Reinigung hatte, erzählte Ray von einem Kunstkurs für »Menschen mit besonderer Sensibilität« – wie sie sich ausdrückte –, an dem sie einmal die Woche teilnahm.
»Meine Mutter war Malerin«, sagte Ray.
Natalie nahm ihn mit in den Kurs.
Als er zum ersten Mal dort gewesen war, rief er mich abends an. Er klang aufgeregt.
»Sie war es«, sagte er. »Und doch auch nicht.«
Die Frau, die diesen Kunstkurs leitete, war Ruth Plank.
Was sich zwischen den beiden ereignet hatte, als Ray damals in British Columbia lebte, wusste ich nicht. Ich hatte nur mitbekommen, dass irgendetwas Schreckliches geschehen war.
»Hast du dich gefreut, sie wiederzusehen?«, fragte ich. Inzwischen wusste ich, dass es am besten war, Ray Fragen zu stellen, die er mit Ja oder Nein beantworten konnte.
Am anderen Ende herrschte Schweigen – es war jene Art von Schweigen, wie ich es noch aus dem Endstadium von Clarice’ Krankheit kannte; wenn ich manchmal ein paar Stunden außer Haus sein musste, hatte ich sie von unterwegs angerufen, damit ich sie atmen hören und ein paar Worte zu ihr sagen konnte. Jetzt hörte ich Ray atmen, und es klang, als habe er vorher lange die Luft
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