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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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im Bett, an ein Kissen gelehnt, und ich hatte mich auf dem Rand niedergelassen. Jetzt richtete er sich mit verblüffendem Schwung auf und streichelte mir die Wange, wie er es noch nie getan hatte. Es war die Berührung eines Mannes für eine Frau, nicht für eine Tochter. In diesem Moment wurde mir klar, dass er mich für jemand anderen hielt.
    »Du bist immer noch wunderschön«, sagte er. »Das wird sich niemals ändern. Und du trägst die Haare so, wie ich es am liebsten mag.«
    Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Einerseits wollte ich hören, was nun kam. Andererseits auch nicht.
    »Was ist damals geschehen, Edwin?«, fragte ich. »Wieso ist Ruth von dir und Connie großgezogen worden? Und Dana von …« Ich zögerte, weil ich jetzt den Namen der Frau aussprechen musste, für die mein Vater mich hielt. »Val.« Danach trat ein langes Schweigen ein. Ich sah meinen Vater an, er schaute zum Fenster hinaus. Er schien in Gedanken an Orten zu sein, die ich nicht erahnen konnte. Als ich sein geliebtes Gesicht betrachtete, kam es mir vor, als beobachte ich eine Wetteränderung – als zögen Wolken auf und verdunkelten die Sonne, als gäbe es die ersten Anzeichen von Regen.
    »Was ist geschehen? Was ist geschehen?«, fragte er und schüttelte den Kopf.
    Während ich ihn ansah, musste ich unwillkürlich daran denken, wie er immer die schwere Tür zur Scheune aufgeschoben hatte.
    Ich wartete ab.
    Etwas würde ich vermutlich niemals erfahren; auch Edwin wusste das wohl nicht: den Namen der Schwester, die uns beim Baden, Füttern oder Windelwechseln verwechselt hatte. Eine banale Geste, die unser aller Leben verändert hatte.
    Doch ich wollte begreifen, warum Edwin sich entschieden hatte, mich in seiner Familie großzuziehen und seine wirkliche Tochter, Dana, bei Dickersons zu lassen. Ich hatte das Gefühl, dass ich an diesem Tag noch eine Chance bekam, die Wahrheit zu erfahren. Eine andere würde es wohl nicht mehr geben.
    »Was war mit den Babys, Edwin?«, fragte ich. »Den beiden Mädchen.«
    »Ach, Liebling, unsere Mädchen«, sagte er und stieß einen Seufzer aus. »Bitte vergib mir.« Seine Hände, die so viele Jahre gesät und geerntet hatten, zitterten heftig.
    »Ich möchte es verstehen«, drängte ich. »Als du erfahren hast, was passiert war – warum hast du nichts unternommen?«
    »Es war ein Versehen, dass die beiden verwechselt wurden«, antwortete er. »Ich hätte niemals mit so etwas gerechnet. Aber als Connie es merkte und mir sagte, wir müssten ins Krankenhaus fahren und das regeln, dachte ich mir, vielleicht sollte es so sein. Ich wusste ja, dass ich das Mädchen lieben würde, denn sie war deine Tochter.«
    »Was redest du da, Edwin?«, fragte ich. Mir war klar, dass er mich für Valerie hielt. Aber ich verstand nicht, weshalb er ihre Tochter lieben sollte.
    Er antwortete nicht auf meine Frage, sondern sprach weiter, als hätte ich nichts gesagt.
    »Es war nicht gut für dich und Connie«, sagte er. »Und für die Mädchen selbst erst recht nicht. Vermutlich für uns alle nicht. Ich habe mich von meinen Gefühlen leiten lassen.«
    »Du meinst, dass du Ruth behalten hast?«, sagte ich. »Statt Dana?«
    »Sie waren ja beide meine Töchter«, antwortete er. »So oder so hätte mir eine Tochter gefehlt. Und ich wollte diese Erinnerung an dich behalten. Ich wollte meine kleine Bohnenstange.«
    Er weinte jetzt. Im Pflegeheim gab es die Anweisung, dass man in solchen Fällen eine Schwester rufen sollte, die ein Beruhigungsmittel verabreichen würde. Wenn ich auf den Knopf drückte, würde Edwin in fünf Minuten schlafen. Und ich würde die Geschichte nie mehr erfahren.
    »Ich verstehe nicht, was du meinst, Edwin«, sagte ich und nahm seine Hand. »Erzähl doch von Anfang an.«
    Und dann war es, als würde die Tür zu unserer alten Scheune endlich aufschwingen.
    Sein Blick ging nach innen, als sähe er dort einen Film. Ich war jetzt weder Ruth noch Valerie für ihn. Wahrscheinlich bemerkte er meine Anwesenheit gar nicht mehr. Doch er schien das Bedürfnis zu haben, endlich die ganze Geschichte zu erzählen, und wenn auch nur den vier Wänden dieses Zimmers. Und so erzählte er sie, zum ersten und zum letzten Mal.

Edwin
    Was für ein Glück
    E s war der zweite Hurrikan der Saison, und man merkte gleich, dass der nicht von Pappe war, so schnell, wie der ranzog. Wir mussten uns keine Sorgen wegen der Ernte mehr machen – im Oktober lagen nur noch ein paar Kürbisse auf dem Feld, aber mit denen

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