Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
George hingezogen, als sie ihn kennenlernte, weil er sie an diesen Onkel erinnerte. Doch es war nicht leicht zu begreifen, was meine Eltern zusammenhielt. Viel Zeit verbrachten sie jedenfalls nicht miteinander. In meiner deutlichsten Erinnerung an George sehe ich ihn mit seinem Aktenkoffer zur Haustür hinauswandern, unterwegs zu verheißungsvolleren Gefilden oder glitzernden Städten, in denen ihn Ruhm und Reichtum erwarteten.
Ruth
Doch gut
W ir waren fünf Mädchen: Naomi, Sarah, Esther, Edwina und ich. Edwina war die Einzige, die um einen biblischen Namen herumkam, weil meiner Mutter damals bewusst wurde, dass es wohl keinen Jungen mehr geben würde, den sie nach meinem Vater benennen konnte. Als sich dann das fünfte Mädchen einstellte, akzeptierte sie Töchter als ihr Schicksal und ließ sich für die Namensfindung wieder vom Alten Testament inspirieren.
Meine Mutter kam ursprünglich nicht aus New Hampshire, sondern aus Wisconsin im Mittelwesten. Aus dem Käseland, sagte sie immer, und durch Käse war sie auch zur Farmerfamilie Plank gekommen. Die hatte nämlich Kühe und wollte lernen, wie man Käse herstellte.
Der Vater meiner Mutter war in den Osten gereist, um ein Gerät zum Käsemachen zu liefern. Seine Tochter hatte er mitgenommen, als Belohnung für ihren Wechsel auf die höhere Schule und um ihr etwas von der Welt zu zeigen. Später stellte sich dann heraus, dass sie viel mehr auch nicht zu sehen bekommen würde – von Bibelgruppentreffen in Maine und den Reisen zu Dickersons einmal abgesehen.
Sie war achtzehn, als sie meinen Vater zum ersten Mal sah, und neunzehn, als sie ihn heiratete, obwohl er sieben Jahre älter war. Wegen des Zweiten Weltkriegs gab es damals kaum Männer, aber mein Vater hatte als Ältester in der Familie eine Sondergenehmigung bekommen, um die Farm weiterführen zu können, während seine Brüder in Europa kämpften. Dass mein Vater zuhause auf der Farm gebraucht wurde, hatte sogar die Regierung eingesehen.
Mein Vater schämte sich sein Leben lang dafür, dass er nicht im Krieg gewesen war. Andererseits fiel es ihm durch die Abwesenheit von Rivalen gewiss leichter, meine Mutter zur Heirat zu überreden – sie hatte nämlich eigentlich nicht vorgehabt, Farmersfrau zu werden, erzählte sie uns immer wieder.
Doch als sie dann auf der Plank Farm lebte, stellte sie diese Entscheidung nicht mehr infrage. In meiner Kindheit – und noch viele Jahre danach – war meine Mutter tagtäglich vierzehn Stunden auf den Beinen; sie buk Brot, kochte Bohnen, drehte unsere Wäsche durch die Mangel, hängte jeden Morgen die Arbeitshosen meines Vaters auf die Leine, kochte mit dem Dampftopf Gemüse für den Winter ein und betrieb unseren Verkaufsstand.
Von Haus aus war sie andere Verhältnisse gewöhnt – im Käsegeschäft verdiente man mehr als mit einer Farm –, aber meine Mutter ließ sich nie Sehnsucht nach ihrem früheren Leben in Wisconsin anmerken. Sie hatte sich entschieden, und daran war nichts mehr zu rütteln, sagte sie.
Für meinen Vater gab es nie Zweifel an seinem Dasein und seinen Zielen: Morgens führte ihn sein Weg zuerst in den Stall, um die Kühe zu melken, dann hinaus auf die Felder zu seinem Traktor. Nur im Winter sahen die Tage anders aus, und dann konnte er es kaum erwarten, bis im Januar der neue Katalog von Ernies Samenvertrieb eintraf, der das Frühjahr ankündigte.
Mein Vater kam aus einer presbyterianischen Familie, in der man der Religion keine überragende Bedeutung beimaß; meine Mutter dagegen, die von strenggläubigen Lutheranern aus dem Mittelwesten abstammte, sorgte dafür, dass Gott in unserer Familie ständig präsent war. In den meisten Bereichen verlief unser Leben nach dem Willen meines Vaters, aber bei der Religion hatte meine Mutter das Sagen.
Da wir eine große Familie waren und nicht viel Geld hatten, unternahmen wir keine Reisen nach Wisconsin, wo die beiden Schwestern meiner Mutter und ihre Eltern noch lebten. Jedenfalls gab meine Mutter das als Grund dafür an, dass wir ihren Eltern keine Besuche abstatteten. Ich nahm das damals einfach so hin, ebenso wie die Tatsache, dass es an den Wänden und auf dem Kaminsims viele gerahmte Fotos von den Planks, aber kein einziges von ihrer Familie gab. Damals nahm ich vieles einfach so hin, ohne es zu hinterfragen.
Heute denke ich, dass meine Mutter sich oft einsam gefühlt haben muss – mein Vater war ein schweigsamer Mann, und die Frauen im Kirchenkreis waren alle Einheimische und betrachteten
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