Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
war damit nämlich wesentlich eher zu rechnen als mit dem Geldsegen, auf den George vergeblich hoffte.
Meinen Bruder Ray liebte ich sehr, da zumindest er sich zeitweilig für mich interessierte. Dennoch war mir bewusst, dass ich als Einzige von uns unter dem jeweiligen Dach, das uns gerade schützte, über einen klaren Verstand verfügte.
Von meinen Großeltern habe ich eine meiner Großmütter ein einziges Mal gesehen. Meine Familiengeschichte kannte ich nur in Georges Version: Sein Vater hatte in Stummfilmen mitgespielt und dabei meine Großmutter kennengelernt – die Frau, nach deren Vorbild die Frauenfigur gestaltet worden sei, die man bis zum heutigen Tag zu Beginn jedes Films von Columbia zu sehen bekam. Er sagte, sie sei eine legendäre Hollywood-Schönheit gewesen. Ihretwegen habe es Verkehrsstaus auf den Straßen gegeben, auch als sie schon weit über sechzig war.
Verkehrsstau? Von welchem Verkehr? Meine Großeltern hatten in Vermont gelebt. Wegen einem Zerwürfnis, das mit meiner Mutter zu tun hatte, über das ich jedoch nie etwas Genaueres erfuhr, traf ich meine Großmutter nur ein einziges Mal, als ich fünf oder sechs Jahre alt war, und ich habe sie als ganz gewöhnliche Frau in Erinnerung, die meinen Vater Georgie nannte und uns Hackbraten auftischte.
Mein Vater war ein Schönwettertyp. Für ihn sollte jeder Tag sonnig sein und der Himmel niemals düster. Vater zu sein und Kinder zu haben, fand er schön, aber immer nur so lange, bis er sich ein Projekt für uns ausgedacht hatte, das innerhalb kürzester Zeit wieder in Vergessenheit geriet.
Eine Szene aus unserer Zeit in Vermont: In einem Laden, in dem George Material kaufte, um ein Gehege für die Küken zu bauen, die er mir und meinem Bruder zu Ostern geschenkt hatte – natürlich ohne zu wissen, was wir mit ihnen anfangen sollten, wenn sie größer wurden –, entdeckte er eine Samenmischung für Wiesenblumen im Sonderangebot. Was ihn auf die Idee brachte, dass wir doch den Rasen vor unserem Mietshaus umgraben und dort eine Blumenwiese anlegen könnten.
Zuhause drückte er Ray und mir einen Pappbecher voller Samen in die Hand und sagte, wir sollten sie einfach nach Belieben ausstreuen, damit die Blumen in einem natürlichen Muster wachsen würden. Das Umgraben war inzwischen vergessen. Die Samen sollten auf eigenem Wege in die Erde finden, meinte er, und dort wachsen, wo das Gras verschwunden war.
Ich wusste schon damals, dass auf diese Weise nichts gedeihen würde. Und dass wir auch im Sommer nicht an einem Stand Blumensträuße verkaufen würden, wie George es meiner Mutter verhieß.
Nach der Country-Phase entdeckte George die Fotografie, danach das Puppenspiel. Er meinte, wir sollten mit einem Puppentheater an Schulen auftreten und den Kindern beibringen, wie wichtig gute Ernährung war.
Als Vegetarier und mit ihrem gesunden Lebensstil waren Val und George ihrer Zeit weit voraus. Georges Idee, Saftmaschinen zu verkaufen, wurde kurz darauf von anderen in die Tat umgesetzt. Einmal erstand George von einem Typen, den er in einer Raststätte kennengelernt hatte, eine Joghurtkultur. Damit wollte er Joghurt züchten und ihn dann verkaufen, gesüßt mit Honig aus Vermont (zu der Zeit waren wir gerade wieder im Norden gelandet). Nachdem er mit diesem Vorhaben gescheitert war, kam das Projekt Muschelbude in Maine (obwohl weder Val noch er Meeresfrüchte aßen). Zwischen diesen beiden Unterfangen gab es noch ein paar Erfindungen und – immer wieder – neue Countrysongs.
Als wir in New Hampshire lebten – wo ich im Juli 1950 auf die Welt kam –, hatte mein Vater seine einzige richtige Anstellung. Als wir von dort wegzogen, war ich acht und Ray zwölf. Doch meine Mutter redete noch Jahre danach von dem Haus, in dem wir damals wohnten – es lag an einer unbefestigten Straße, und sie hatten es für fünftausend Dollar in bar gekauft, die sie von ihrem Onkel Ted bekommen hatten. Ted war mit einer Teilhaberschaft an einer Kaugummifabrik zu Geld gekommen.
Vielleicht war es die Erkenntnis, dass jemand durch so etwas wie Kaugummi reich werden – oder doch zumindest jederzeit fünftausend Dollar flüssig haben – konnte, die bei George diese Träume von plötzlichem Ruhm und Reichtum erweckten. Doch ebenso schnell, wie Ted zu dem Geld gekommen war, verlor er auch den größten Teil wieder, weil er laut Bericht meiner Mutter den Gewinn in die Herstellung essbarer Kreide investierte und damit kläglich scheiterte.
Vielleicht fühlte Val sich zu
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