Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Grases hing in der Luft.
Diesen Augenblick solltest du nie vergessen , sagte ich mir. Ich war noch jung, doch ich spürte instinktiv, dass es Momente von solcher Schönheit nicht allzu oft im Leben gibt.
Als ich aus dem Wasser stieg, nahm ich am Ufer eine Hand voll Schlamm und verteilte sie über meinen Körper, bis er fast vollständig bedeckt war. Dann packte ich das Seil und schwang übers Wasser, höher als je zuvor. Und ließ los.
Dana
Der glücklichste Mensch auf Erden
G eorges ständige Abwesenheit und seine Achtlosigkeit im Umgang mit uns Kindern ließen sich natürlich mit nichts entschuldigen. Dennoch glaube ich, dass er wirklich bei jeder neuen Idee davon überzeugt war, ein Vermögen verdienen zu können. Ich kenne keinen anderen Menschen, der sich angesichts ständiger Niederlagen so viel Optimismus bewahrte. Er gab niemals auf, und er konnte absolut nicht verstehen, wenn jemand sich anders verhielt. Mein Bruder zum Beispiel.
Für Ray war es manchmal schon schwer, auch nur einen Tag durchzustehen. Wenn man meinen Bruder ansah, hätte man glauben können, dass er der glücklichste Mensch auf Erden war. Er war hübsch, witzig, charmant und sportlich; die Mädchenherzen flogen ihm zu, und sogar Lehrer drückten ein Auge zu, wenn er etwas vermasselte. Wenn Ray sich gut fühlte, war er der Meister des Einrads und sauste die Hauptstraße der jeweiligen Stadt entlang, in der wir gerade wohnten, als sei er der Bürgermeister oder gar der König.
Doch an anderen Tagen – und von diesen Tagen gab es im Laufe der Jahre immer mehr – blieb er bis mittags im Bett. Oder ich sah ihn irgendwo an einem Baum lehnen, einen Grashalm kauend. Oder er spielte auf seiner Mundharmonika immer wieder dieselben acht Töne.
»Dein Bruder ist eben empfindsam«, sagte Val, aber ich fand, das reichte als Erklärung nicht aus. Mir kam es manchmal vor, als fehle meinem Bruder eine spezielle Hautschicht, die es anderen Menschen ermöglichte, sich durchzuschlagen. Wie damals, als seine Freundin mit ihm Schluss machte. »Du lässt mir keinen Raum zum Atmen mehr«, hatte sie zu ihm gesagt. Ray kam das gesamte Wochenende nicht aus seinem Zimmer, und ich hörte ihn durch die Wände nicht nur herzzerreißend weinen, sondern gequält stöhnen.
Dann ging es ihm wieder gut – nicht nur gut, sondern er war regelrecht euphorisch, allerdings mit einer bitteren Note. »Vermutlich springe ich dieser Tage irgendwo vom Dach«, sagte er einmal in seinem Zimmer zu mir. »So wie ich mich kenne.« Er spielte mir eine Platte vor, die er gerade gekauft hatte, von den Doors.
»Jim Morrison«, erklärte er. »Das ist ein Typ, der was kapiert. Der und ich leben mit dreißig wahrscheinlich beide nicht mehr.«
»Hör auf damit«, erwiderte ich. »Ich hasse es, wenn du so daherredest.«
»Machen wir uns nichts vor, Schwesterchen«, sagte Ray ein anderes Mal zu mir. Wir sahen fern, und es wurden Szenen aus Vietnam gezeigt, Bilder von Vietnamesen, die bei einem abgebrannten Dorf standen, von nackten weinenden Kindern. »Die Welt ist ein echt beschissener Ort. Im Grunde steht jeder allein da, wenn man es sich mal recht überlegt.«
»Wie willst du es mit dieser negativen Haltung zu irgendwas bringen im Leben?«, fragte George ihn. »Das musst du von deiner Mutter geerbt haben.«
»Und zu was hat er es mit seiner positiven Haltung gebracht?«, fragte Ray mich. Er fragte immer mich, denn George machte solche Bemerkungen auf dem Weg zur Tür und war dann sofort verschwunden, sodass niemand ihm widersprechen konnte. Ich hätte das sowieso nicht getan; das überließ ich Ray.
Mehrmals gab George einen ziemlichen Batzen Geld – drei- oder viertausend Dollar, was dann immer unsere gesamten Rücklagen waren – für ein Patent für eine seiner Erfindungen aus. Und jedes Mal machte er sich größere Hoffnungen als beim letzten Versuch.
Wenn dann ein Brief vom Anwalt eintraf, in dem man George mitteilte, dass leider bereits jemand den elektrischen Katzenfutterspender oder den Rühreischläger erfunden hatte, in dessen Entwicklung er gerade ein Jahr seines Lebens investiert hatte, las George das Schreiben meiner Mutter mit sichtlichem Stolz vor. Für ihn war nicht die Nachricht wichtig, dass er seine Erfindung vergessen konnte und das Geld verloren war. Sondern dass die Existenz dieser Gerätschaft bewies, wie erfinderisch und genial seine Idee doch gewesen war.
»Ich hatte also den richtigen Riecher«, sagte er über den Rühreischläger. »Eines Tages,
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