Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
ein Wunder.«
»Hör zu«, sagte er. »Ich finde, in Anbetracht der Umstände war es okay, was ich geleistet habe. Deine Mutter –« Er unterbrach sich. »Deine Mutter ist auch ihrer eigenen Wege gegangen«, fügte er schließlich hinzu. »Du hast ja keine Ahnung.«
»Das ist mir auch egal«, entgegnete ich. »Sie ist jedenfalls bei uns geblieben.« Ich stand auf und ging weg.
Danach sprachen wir nie wieder miteinander.
Ruth
Was Anatomisches
M eine Mutter und Nancy Edwards kamen übers Wochenende zu Besuch. Sie gehörten einer Quilt-Gruppe an – die einzige Tätigkeit meiner Mutter außerhalb der Farm und der Kirche – und wollten sich eine Ausstellung mit Quilts aus den Appalachen ansehen. Nancy hatte vorgeschlagen, das zum Anlass für eine Wochenendreise zu nehmen: erst die Ausstellung, dann einen Abstecher zu Filene’s oder den Freedom Trail abschreiten, Fischessen am Wasser. Übernachten konnten sie bei mir – Nancy auf der Couch, meine Mutter bei mir im Bett.
Ich lebte seit zwei Jahren in Boston, und meine Mutter besuchte mich zum ersten Mal hier. Sie war weder zu meiner Immatrikulation gekommen noch zu der Ausstellung, in der meine prämierte Zeichnung gezeigt wurde, und ich blickte ihrem Besuch mit einer Mischung aus Sorge und Aufregung entgegen. In all den Jahren war ich nie den geheimen Wunsch losgeworden, ihr zu gefallen, hatte aber auch die vielen Enttäuschungen nicht vergessen können.
Wir aßen in dem Fischrestaurant gerade unseren Nachtisch, als Nancy auf das Thema zu sprechen kam. »Wir haben gehört, dass du ein Buch veröffentlicht hast. Das ist ja ein großer Erfolg.«
Ich betrachtete eingehend meinen Kuchen und blieb stumm. Die beiden waren vor einigen Stunden angekommen, und meine Mutter verhielt sich mir gegenüber wie immer: freundlich, aber distanziert.
»Nein, das stimmt so nicht«, sagte ich. Mein Mund fühlte sich trocken an. »Ich habe nur einem Freund ausgeholfen. Wie habt ihr davon erfahren?«
»Eine Kundin am Stand hat davon erzählt«, antwortete meine Mutter. »Eine junge Frau, die Stiefmütterchensetzlinge gekauft hat. Sie wollte wissen, ob wir mit der Künstlerin verwandt seien, die für ein bestimmtes Buch die Zeichnungen gemacht hat.«
»Was ist es überhaupt für ein Buch?«, fragte Nancy. »Wir haben es noch nirgendwo gesehen.«
»Was Anatomisches«, antwortete ich. »Die hielten mich für geeignet wegen meiner Arbeiten an der Akademie.«
»Meine Mädchen konnten alle gut zeichnen«, sagte meine Mutter. »Du hättest mal die Snoopy-Bilder sehen sollen, die Naomi immer gemalt hat. Eins wurde sogar in der Zeitung veröffentlicht.«
Ausnahmsweise war das Desinteresse meiner Mutter an meinem Leben diesmal von Vorteil für mich. Sie fragte auch nie mehr nach dem Buch, obwohl Nancy noch ein- oder zweimal davon anfing.
»Vergiss nicht, mir eins mitzubringen, wenn du wieder mal nach Hause kommst«, sagte Nancy.
Doch als ich das nicht tat, geriet die ganze Sache in Vergessenheit.
Dana
Gute Zäune
Z um ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich. Ich hatte meinen Bachelor in Agrarwissenschaften in der Tasche, Clarice lehrte an der Uni, und wir lebten zusammen in Newmarket. Es belastete mich zwar, dass ich nichts zum Lebensunterhalt beitragen konnte, aber Clarice meinte, ich solle mir keine Gedanken darüber machen, das würde sich schon ausgleichen. Ich hatte hinter dem Haus einen großen Gemüsegarten angelegt, von dem wir uns den Sommer über ernährten, und im Herbst legte ich Dillbohnen, Gurken und Rote Beete ein und kochte Tomatensoße auf Vorrat. Wenn Clarice von der Uni nach Hause kam, erwarteten sie ein gedeckter Tisch mit Kerzen und ein Abendessen. Später massierte ich ihre hinreißenden Schultern und ihren schlanken Rücken, um die Verspannung von der Schreibtischarbeit zu lösen. Und ich wurde nie müde, ihr bezauberndes, kluges, liebevolles Gesicht zu betrachten.
»Du bist so schön«, sagte ich immer wieder, jeden Tag aufs Neue. »Ich liebe deinen Körper.«
»Das empfinde ich auch für dich«, flüsterte sie, obwohl wir beide wussten, dass ich alles andere als schön war – mein Körper erinnerte mich an einen Baumstumpf, mein Gesicht war schlicht. Wenn Edwin Plank eine Kartoffel finden würde, die mir glich, dann würde sie bleich, rund und unscheinbar sein. Clarice hatte diese üppige goldene Lockenmähne, meine Haare dagegen waren dünn und struppig und so kurz geschnitten wie die eines Mannes.
»Ich finde dich schön«, sagte Clarice und
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