Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
meinem Leben seit meinem sechsten Lebensjahr arbeitete ich in diesem Sommer nicht auf den Feldern und am Verkaufsstand der Plank-Farm. Stattdessen fuhr ich sieben Tage die Woche nach Jamaica Plain, um dort von Josh engagierte Paare zu zeichnen, die sich in einer erstaunlichen Vielfalt von Stellungen dem Liebesspiel hingaben.
Auch das gesamte Labor-Day-Wochenende arbeitete ich an dem Buch – das den Titel Sexual X-tasy tragen würde –, um die letzten Zeichnungen zu vollenden. In den meisten Illustrationen wurden nur die Körper der Liebenden dargestellt, aber auf dem letzten Bild, meinem Meisterwerk, waren ein Mann und eine Frau in einer rustikalen Hippie-Küche dabei abgebildet – auf dem Tisch lag ein Bauernbrot, von den Deckenbalken hingen Kräuterbündel –, wie sie sich auf dem Tresen vergnügten.
Mit den 127 erotischen oder auch lehrreichen Zeichnungen hatte ich insgesamt 1270 Dollar eingenommen. Um meine Abwesenheit auf der Farm zu erklären, hatte ich meiner Mutter gesagt, ich hätte einen Sommerjob bei Filene’s, einem Laden, in dem es Markenkleidung zu reduzierten Preisen gab. Dabei hatte ich nicht bedacht, dass meine Schwestern auf die Idee kommen würden, ich bekäme als Angestellte Rabatt und sie könnten deshalb da einkaufen. Niemals zuvor hatten sie ein so lebhaftes Interesse an irgendetwas in meinem Leben gezeigt.
Ironischerweise verbrachte ich meinen Sommer in Wirklichkeit mit Menschen, die nicht ein einziges Kleidungsstück am Leib trugen. Von vormittags bis nachts saß ich auf einem harten Holzstuhl und zeichnete Paare beim Liebesakt. Aber später, in meiner winzigen Wohnung unweit vom Central Square, war ich allein, obwohl ich ab und an von Männern gefragt wurde, ob ich mit ihnen ausgehen würde.
Ich lehnte immer ab. Ich konnte Ray Dickerson nicht vergessen.
Dana
Verschwunden
I ch schrieb mich an der Uni ein. Von allen Orten, an denen meine Familie gewohnt hatte, fühlte ich mich in New Hampshire am heimischsten – hier war ich geboren, und hier hatten wir das einzige Mal ein Haus besessen –, und deshalb entschied ich mich für die University of New Hampshire. Außerdem hatte sie einen hervorragenden Fachbereich für Agrarwissenschaften, was ich studieren wollte. Die Plank-Farm war eine knappe Stunde Autofahrt von der Uni entfernt.
Ich belegte Biologie, Bodenchemie, Pflanzenwissenschaften, Viehzucht. Mit dem Geld, das ich an den Wochenenden und im Sommer als Kellnerin verdient hatte, bezahlte ich den ersten Teil meiner Studiengebühren. Ich vertraute darauf, dass mir für den Rest schon eine Lösung einfallen würde.
Für mein Stipendium musste ich in den Ställen arbeiten, in denen mit Viehzucht experimentiert wurde. Es gehörte zu meinen Pflichten, die Spermaproben der Zuchtbullen zu beschriften und zu katalogisieren – eine Aufgabe, für die ich bestens vorbereitet war, da ich jahrelang in der chaotischen Küche meiner Mutter für Ordnung in den Joghurtkulturen gesorgt hatte. Deshalb wurde ich rasch befördert und beauftragt, die Proben selbst einzubringen – eine anspruchsvolle und nicht ganz ungefährliche Aufgabe. Und ich durfte auch im Kleintierstall mithelfen, wo ich meine Liebe zu Ziegen entdeckte.
Ich arbeitete für mein Leben gern im Stall. Ich liebte das Muhen der Kühe an den Abenden, an denen ich noch spät ihre Boxen säuberte, und das leise rhythmische Schmatzen, wenn sie fraßen. Nachdem mein Tagewerk getan war – wenn ich den Stall abgeschlossen und die Fläschchen mit dem Sperma beschriftet und in die richtigen Ständer im Kühlschrank gestellt hatte –, zog ich meine Latzhose aus, schlüpfte in meine Khakis und radelte froh und zufrieden zum Campus zurück.
Dabei pfiff ich oft vor mich hin, wie ich es früher bei Edwin Plank gehört hatte.
»Ich liebe die Welt«, sagte ich dabei einmal laut.
Ich wähnte mich alleine, aber plötzlich tauchte neben mir eine Frau auf einem Fahrrad auf.
»Ich auch«, sagte sie. »Dass jemand so empfindet, erlebt man nicht oft.«
Sie schien in meinem Alter zu sein, aber später erfuhr ich, dass sie einige Jahre älter war. Clarice war immer äußerst gepflegt. Wer glauben mag, dass lesbische Frauen sich nicht zurechtmachen, hat Clarice nicht erlebt. Sie hatte eine Flut langer Locken, die sie mit einem geblümten Haarband bändigte, und sogar beim Radfahren trug sie lange baumelnde Ohrringe, die ihren schlanken, eleganten Hals betonten. Und sie hatte perlmuttfarben lackierte Fingernägel – was man bei den
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