Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
auch, dass du von hier weg solltest«, entgegnete sie. »Ein Wagen wird uns abholen.«
Durchs Fenster sah ich meinen Liebsten, aber so hatte ich ihn noch nie erlebt. Obwohl es Frost gegeben hatte, saß er draußen im Hof, vornübergebeugt, den Kopf in die Hände gestützt. Er weinte nicht, wie ich es schon oft bei ihm erlebt hatte. Viel schlimmer: Er sah so reglos und stumpf aus, als hätte man ihn mit Elektroschocks behandelt.
»Ray!«, rief ich zur Tür hinaus. »Du musst sofort reinkommen. Meine Mutter redet wirres Zeug.«
Alles drehte sich vor meinen Augen. Mir war schon schwindlig gewesen, und nun erbrach ich mich. Meine Mutter holte einen Lappen von der Spüle, den sie mit Wasser aus dem Eimer anfeuchtete. Ihr altes Hilfsmittel in allen Lebenslagen: saubermachen.
Ich versuchte, Ray noch einmal zu rufen. Öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus.
Dann bewegte er sich so langsam wie eine Gestalt aus einem Horrorfilm – wie ein Zombie aus Die Nacht der lebenden Toten – aufs Haus zu und trat ein. Ich sah ihn an, aber er wich meinem Blick aus. Vor meinen Füßen wischte meine Mutter den Boden. Rays Gesicht, das ich so gut kannte wie meine eigene Hand, war vollkommen ausdruckslos. Und er war noch auf andere Weise entstellt. Seine schönen langen Haare waren verschwunden. Abgeschnitten. Kurze, unregelmäßige Stoppeln bedeckten seine Kopfhaut. Ich sah sogar eine Ader auf seiner Kopfhaut pulsieren.
»Was ist hier los?«, schrie ich. »Ich verstehe das alles nicht.«
»Das hätte nie passieren dürfen«, sagte er. Die Stimme eines Toten, wenn Tote sprechen könnten. »Es ist am besten für dich, wenn du gehst.«
»Was ist los? Warum erklärt mir niemand etwas?« Dann fiel mir auf, dass Ray heute Nacht nicht bei mir im Bett geschlafen hatte. Wo auch immer er die Nacht verbracht hatte – es war nicht an meiner Seite gewesen.
»Eines Tages wirst du verstehen, dass es zu deinem Besten ist«, sagte meine Mutter und legte Kleider von mir zusammen. »Jetzt musst du erst einmal mitkommen.«
Ich warf mich auf Ray, schlug mit den Fäusten auf seine Brust, kratzte über seine Haut. Riss an den Stoppeln, die von seinen Haaren übrig geblieben waren.
»Was hat sie mit dir gemacht?«, schrie ich. »Du hast den Verstand verloren.«
Er antwortete nicht. Es war, als habe Rays Seele seinen Körper verlassen, als sei sein Körper eine leblose Hülle.
»Ich kann nicht darüber sprechen«, sagte er tonlos. »Du musst jetzt einfach gehen. Wir können das Kind nicht bekommen.«
»Was redest du da? Du wolltest es doch. Du hast es mir tausendmal gesagt.«
»Es war ein Fehler. Ich will es nicht mehr. Ich kann nicht darüber sprechen. Geh weg.«
Alles wurde dunkel um mich.
Meine Mutter musste das Taxi schon bestellt haben, bevor sie die Reise nach Kanada antrat. Ich hörte, wie meine Mutter zu dem Fahrer sagte: »Sie müssen den Zustand meiner Tochter entschuldigen. Sie macht im Moment Schlimmes durch.«
Ich habe noch ein verschwommenes Bild vor Augen, bevor meine Mutter mich zum Taxi führte. Ray zusammengekrümmt auf dem Bett, seine geschorenen Haare, die wirr vom Kopf abstanden. Er lag mit dem Gesicht zur Wand, aber als ich dieses letzte Mal seinen Namen rief, wandte er sich um und schaute mich an.
»Das ist alles nicht wahr«, sagte ich. »Bitte sprich mit mir. Hol mich zurück.«
Ich sehe sein verstörtes Gesicht noch heute vor mir.
»Was tust du?«, schrie ich. »Was hat sie zu dir gesagt?«
Er schüttelte den Kopf und drehte sich wieder zur Wand.
Ich weiß nicht mehr, wie meine Mutter mich in dieses Taxi beförderte. Und ich kann mich auch nicht an die Rückfahrt erinnern, die Fähren, das letzte Stück Straße. Die ersten zwanzig Minuten schrie und weinte ich. Ich glaube nicht, dass wir auf der gesamten langen Fahrt auch nur ein einziges Wort sprachen.
Am Flughafen muss meine Mutter unser Gepäck eingecheckt und unsere Pässe vorgezeigt haben. Ich habe keine Ahnung, wie sie das alles geschafft hat. Sie hatte jedenfalls ein Ticket für mich. Nach Boston, ohne Rückflug.
Ich habe auch keinerlei Erinnerung an den Flug oder daran, dass mein Vater uns am Flughafen abgeholt hat, obwohl es so gewesen sein muss. Es war lange nach Mitternacht. Eine dünne Schneeschicht bedeckte die Felder, auf denen noch ein paar Kürbisse verstreut lagen.
In dieser ersten Woche nach unserer Rückkehr schickte ich Ray Telegramme, doch ich hörte nichts von ihm. Ich rief sogar meine Geburtstagsschwester Dana an, um zu erfahren, ob
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