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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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mir nicht leicht zu beschreiben, wie es sich anfühlte, Ray zu lieben. Vor einigen Jahren berichtete eine Frau, die von Crystal Meth abhängig gewesen war, an der Schule meines Sohnes von ihren Erfahrungen. Sie war seit zehn Jahren clean und sagte, sie vermisse immer noch das Gefühl, das sie auf Droge gehabt habe. Wenn sie die Droge weiter benutzt hätte, wäre sie daran gestorben. Dennoch kam ihr das Leben ohne diese Zustände oft weniger lebenswert vor. Schal – auch wenn sie es ansonsten komplett eingebüßt hätte.
    Als ich mit meinem lieben und verlässlichen Ehemann – mit dem ich zu diesem Zeitpunkt schon an die zwanzig Jahre zusammen war – und anderen besorgten Eltern in diesem Saal saß und der Frau zuhörte, sah ich plötzlich Rays Gesicht vor mir. Und wurde von einer so heftigen Traurigkeit und Sehnsucht erfasst, dass ich die Hand vor die Augen legen musste. Noch nach all diesen Jahren.
    Ihn in mir zu spüren, damals in jener Zeit in British Columbia, war ein Gefühl, ich nie zuvor und nie danach erlebt habe, und es war so überwältigend, dass mir beinahe die Sinne schwanden. Nachdem ich eine Weile mit Ray zusammengelebt hatte, brauchte er schließlich nur noch meine Hand zu berühren, dann wurde mir schon heiß und mein Herz schlug gleich viel schneller.
    Er versah die Stellen meines Körpers, die er gerne berührte, mit Namen – und das waren alle Stellen meines Körpers. Ich musste ihm versprechen, dass diese Namen niemals jemand außer uns erfahren würde. Und trotz allem, was danach geschah, habe ich dieses Versprechen nicht gebrochen.
    Wir liebten uns viele Stunden, bis ich völlig erschöpft war. Danach war ich zu schwach, um Kontakte zu anderen Menschen zu suchen, zu malen oder mich um das Haus zu kümmern. Um uns herum schien alles zu zerfallen, aber wir fanden nie Zeit, etwas zu reparieren.
    Ray sang mir vor – jeden Tag ein neues seltsames Lied, das er selbst erfand. Da er niemals Ruhe zu brauchen schien, ich mich aber ausruhen musste, setzte er sich manchmal zu mir ans Bett und spielte auf seiner Mundharmonika Melodien, die mich an Zigeunermusik erinnerten und mich in meine Träume begleiteten.
    Und immer wieder sagte er, dass er ein Kind mit mir haben wolle.
    »Und wo soll das Geld herkommen?«, erwiderte ich dann. »Wovon sollen wir leben?« Ich konnte in einem eiskalten Bett schlafen und mit nichts als Reis im Bauch überleben, aber ich wusste, dass ich für mein Kind ein anderes Leben haben wollte. Schule, Freunde, ein Haus mit fließend Wasser, Kekse im Ofen, Geburtstagsfeiern, einen Weihnachtsbaum.
    So wie wir jetzt lebten, bekamen wir kaum andere Menschen zu Gesicht. Ich ertappte mich dabei, dass ich immer häufiger im Ort das Gespräch mit beliebigen Leuten suchte, weil ich ab und zu eine andere Stimme hören wollte. Danach hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil es mir vorkam, als hätte ich Ray betrogen. Denn er hatte so oft gesagt, dass er keine anderen Menschen bräuchte. Nur mich und unser Kind. Zu dritt in einer eigenen Welt.
    Manchmal fragte ich mich, was mein Vater wohl sagen würde, wenn er mich hier erleben könnte. Ich sah sein liebes, besorgtes Gesicht vor mir –, wenn es zu lange nicht geregnet hatte, wenn die Kühe Milchfieber hatten oder Wild das Maisfeld verwüstet hatte. Dann bekam ich ganz plötzlich Heimweh. Ich wollte mit Ray zusammen sein, aber ich vermisste auch Teile der Welt. Ich wollte daran glauben, dass ich beides haben konnte – die anderen Teile meines Lebens, die ich liebte, und den Mann, den ich über alles liebte –, aber ich wusste nicht, wie das möglich sein sollte.
    Als sich der Herbst näherte – ich lebte nun fast ein Jahr auf der Insel –, begann Ray täglich von unserem Kind zu sprechen. Er wusste, dass es ein Mädchen werden würde, sagte er, und er hatte sogar schon einen Namen für unsere Tochter: Daphne.
    Ich hatte bisher ein Diaphragma benutzt, das ich mir vor dem Abflug nach Vancouver besorgt hatte. Nun schüttelte Ray jedes Mal den Kopf, wenn ich es aus dem Behälter nahm. »Was ist mit Daphne?«, fragte er. »Möchtest du nicht, dass sie bei uns ist?« Er sprach von ihr, als sei sie ein realer Mensch, der einsam und frierend vor unserer Tür stand und dem ich das Obdach verweigern wolle. Wenn wir uns liebten, kam es mir nun manchmal vor, als sähe ich unsere imaginäre Tochter, wie sie durch die beschlagenen Fenster schaute und flehentlich darum bat, eingelassen zu werden.
    »Ich will dieses Ding wegwerfen«, sagte Ray. »Ich

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