Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
will es verbrennen.« Doch ich benutzte das Diaphragma weiterhin. Ich sah uns beide nicht als Eltern und glaubte nicht, dass wir Verantwortung für etwas außer uns beiden übernehmen könnten.
Dann, in einer Novembernacht, in der das Mondlicht durchs Fenster fiel und Muster auf den nackten Körper des Mannes zeichnete, den ich liebte, begann ich mit Ray über etwas zu reden, das wir in unserer Selbstgenügsamkeit noch nie besprochen hatten.
»Ich hatte mein ganzes Leben lang das Gefühl, in meiner Familie fehl am Platz zu sein«, sagte ich. »Ich liebe meinen Vater, und vielleicht liebe ich auch meine Mutter und meine Schwestern, aber sie kamen mir immer wie eine andere Spezies vor. Ich kenne sie eigentlich kaum. Und sie kennen mich nicht.«
»Ich bin jetzt deine Familie«, erwiderte Ray.
Das wusste ich. Doch meinem Verständnis nach waren zwei Menschen noch keine Familie.
»Ich möchte, dass wir uns eine eigene Familie schaffen«, sagte Ray. »Unseren eigenen Stamm. Der keine anderen Wurzeln hat außer uns.«
In dieser Nacht benutzte ich mein Diaphragma nicht. »Du bist jetzt meine Familie«, sagte Ray, und sein Blick drang in mein Inneres. »Mehr brauche ich nicht. Wir schaffen uns selbst eine Familie.«
Ich glaubte, den Moment gespürt zu haben, in dem das Kind gezeugt wurde, und am nächsten Morgen fühlte ich es in mir. Ein paar Wochen später fuhren wir zur Klinik, um es bestätigen zu lassen. Als ich Ray die Nachricht überbrachte, war er überglücklich. Ich hingegen hatte sonderbar gemischte Gefühle: Freude, aber auch eine unterschwellige Angst, deren Ursprung ich nicht ergründen konnte. Vermutlich fürchtete ich mich davor, dass sich nun zwischen Ray und mir alles verändern könnte. Und nichts, nicht einmal ein Kind, war es wert, dieses Risiko einzugehen.
Doch mich plagte auch noch eine andere Sorge. Ich war immer glücklich über Rays intensive Gefühle gewesen und hatte mich gefreut, wenn es ihm gut ging. Nun brachten wir ein Kind in dieses empfindliche Gleichgewicht ein, und ich musste unwillkürlich an meine eigene Vergangenheit denken. Ich hatte mich zwar mit meinen schweigsamen, verschlossenen Eltern oft einsam gefühlt, doch die Kraft meines Vaters war auch tröstlich für mich gewesen. Als die Scheune abbrannte, als die Ernte schlecht war, als meine Schwester und ich nach Woodstock abhauten – mein Vater hatte sich nicht erschüttern lassen. Ich hatte mich stets darauf verlassen können, dass er sich um alles kümmerte. Und nun versuchte ich mir vorzustellen, was meine Tochter vorfinden würde, wenn sie Schutz und Geborgenheit bei ihrem Vater suchte. Und feststellen musste, dass dieser Mann all das selbst bei anderen suchte, anstatt es geben zu können.
Als ich an meinen Vater dachte, überkam mich ein dringlicher Wunsch.
»Ich will meine Eltern anrufen«, sagte ich zu Ray.
Ich hatte ihnen das ganze Jahr über kaum etwas von mir erzählt. Auf den wenigen Postkarten, die ich ohne Absender nach Hause geschickt hatte, stand lediglich, dass ich auf einer Insel in British Columbia lebte und glücklich war.
Jetzt wollte ich, dass sie von meinem Zustand und der wunderbaren Fügung erfuhren, dass der Vater meines Kindes ein Mann war, den sie schon ihr Leben lang kannten – der große Bruder meiner Geburtsschwester Dana Dickerson. Nun würden unsere Familien wahrhaft verbunden sein, wie meine Mutter es sich immer gewünscht hatte.
Wir riefen am frühen Abend von einer Telefonzelle außerhalb der Klinik an. Ich lauschte dem Freizeichen und stellte mir vor, dass die beiden jetzt nach dem Abwasch wahrscheinlich im Wohnzimmer saßen und fernsahen. Oder aber mein Vater las, während meine Mutter puzzelte oder an einem Quilt arbeitete.
»Ich bin’s, Ruth«, sagte ich, als ich die Stimme meines Vaters hörte. »Ich rufe aus Kanada an, weil ich euch etwas erzählen möchte. Kannst du mir Mama geben?«
Dann erzählte ich es ihnen. Am anderen Ende trat Schweigen ein.
»Bist du sicher, Ruth?«, fragte meine Mutter. Nicht in dem aufgeregten Tonfall, den ich von einer Frau erwartet hätte, die sich Enkel wünschte.
»Ich habe heute das Ergebnis bekommen«, antwortete ich. »Ich bin in der sechsten Woche.«
»Das sind ja Neuigkeiten, Schatz«, sagte mein Vater. Meine Mutter blieb stumm.
»Und Ray Dickerson«, sagte mein Vater. »Da habt ihr beide euch wohl wieder angefreundet. Ihr verbringt jetzt viel Zeit zusammen, nehme ich an?«
»Wir leben zusammen, Dad. Seit einem Jahr.«
Plötzlich kam es
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