Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
mir absurd vor, dass ich ihnen bisher nichts davon erzählt hatte.
»Ich muss darüber nachdenken«, sagte meine Mutter schließlich. »Das ist wirklich aufregend. Und kompliziert. Ich muss darüber nachdenken.«
Ich lachte. Wie lange musste man wohl darüber nachdenken, um zu begreifen, dass in acht Monaten – etwa zur Maisernte – ein kleiner Mensch auf die Welt kommen würde? Was war daran so kompliziert?
Da man uns nicht anrufen konnte, gaben wir meinen Eltern unsere Adresse. Am nächsten Tag steckte in unserem Postkasten ein Telegramm, in dem stand, dass meine Mutter zu Besuch kommen würde.
Ich hätte sie zur Geburt erwartet, aber sie kam jetzt . In drei Tagen. In dem Telegramm war die Ankunftszeit ihres Fluges angegeben.
Wir machten natürlich die lange Fahrt nach Vancouver, um sie abzuholen. Ich hätte niemals erwartet, dass meine Mutter – die alleine nirgendwohin fuhr außer mit dem Bus nach Wisconsin – ohne Begleitung diese weite Reise antreten würde.
Meine Mutter war leicht auszumachen, als sie den Flugsteig entlangkam – eine kleine gedrungene Gestalt mit dem entschiedenen Gang eines Soldaten, der in den Krieg zieht. Sie trug ihren alten grauen Mantel, Schal, Hut, ihre vernünftigen Schuhe und eine Blumenbrosche am Kragen. In einer Hand hielt sie ihre Tasche, in der anderen eine Papiertüte mit einem Glas Erdbeermarmelade. Ihre Umarmung war steif und förmlich wie immer, aber nachdem ich ein Jahr lang nur von Ray berührt worden war, fühlte sich diese Geste, in der mehr Reserviertheit als Liebe zum Ausdruck kam, noch sonderbarer an.
Ich fragte mich besorgt, was meine Mutter wohl beim Anblick unseres Hauses sagen würde. Einen Holzofen hatten wir auf der Farm auch, aber was würde sie von dem Klohaus, dem Eimer neben der Tür, mit dem wir Wasser holten, der Dachpappe und der Plastikfolie an den Fenstern halten? In ihren Augen würde unser Haus eher wie eine Hütte erscheinen. Seit ich von ihrer Ankunft erfahren hatte, hatte ich hektisch aufgeräumt, Vorhänge angebracht, meine zahllosen Aktzeichnungen von Ray und die Gedichte für mich abgehängt, die Ray überall im Haus an den sonderbarsten Stellen befestigt hatte.
Auf der Fahrt zur Insel sprach meine Mutter kaum. Ich wies immer wieder auf landschaftliche Schönheiten hin, und dann nickte sie und sagte knapp: »Ja, eine sehr schöne Gegend. Das muss ich sagen.«
Wir hatten mit einer dünnen Matratze und so vielen Decken, wie wir erübrigen konnten, ein Bett für sie improvisiert, in dem Raum, den ich als Atelier benutzte. Ich hatte eine Indianerdecke darüber gebreitet und eine Schale mit schönen Muscheln daneben gestellt.
Als wir nach Hause kamen, war es schon dunkel. Weil ich durch die Schwangerschaft so müde war, ging ich sofort ins Bett. Da man nie wusste, wie Ray sich gegenüber anderen Menschen verhalten würde – er konnte charmant, aber auch einsilbig und mürrisch sein –, war ich erleichtert, als ich merkte, wie freundlich er mit meiner Mutter umging. Als ich mich zurückzog, hörte ich, wie er Wasser für Tee aufsetzte.
»Damit die künftige Großmutter unseres Kindes und ich uns in Ruhe kennenlernen können«, sagte er, wobei er sich völlig fremd anhörte.
Als ich im Bett lag, nahm ich behagliche Geräusche aus der Küche wahr – Teebecher und Honigtopf wurden auf den Tisch gestellt, die Kekse, die ich am Vortag gebacken hatte, vom Blech genommen und auf einen Teller gelegt. Mit dem beruhigenden Gefühl, dass Ray und meine Mutter sich gut verstanden, schlief ich ein und träumte von unserem Baby.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war alles anders. Obwohl es noch früh war, hatte meine Mutter ihre Tasche schon gepackt und war angezogen, als wolle sie wieder abfahren.
»Wir fahren nach Hause«, sagte sie, als ich in die Küche kam. Mir war flau im Magen von der Morgenübelkeit.
»Was redest du da? Ich bin zuhause. Hier.«
»Ich nehme dich mit nach New Hampshire«, erwiderte meine Mutter. »Es hat da einen schrecklichen Irrtum gegeben. Dein Vater und ich werden uns ab jetzt um dich kümmern.«
Ich fand ihre Äußerungen so verrückt, dass ich nur lachte. Dann machte ich mir klar, dass ich meine Mutter über ein Jahr nicht gesehen hatte. Vielleicht hatte eine rasant fortschreitende Form von Demenz bei ihr eingesetzt, obwohl sie erst Anfang fünfzig war.
»Ich lebe jetzt hier, Mom«, sagte ich langsam. »Ich gehe nirgendwohin. Ich lebe mit Ray zusammen. Wir lieben uns, und wir bekommen ein Kind.«
»Ray meint
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