Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
geworden, und sie schien geschrumpft zu sein.
»So groß wie immer«, sagte sie, als ich mit Elizabeth zu ihr trat. Meine Mutter machte keine Anstalten, mich zu umarmen, tätschelte aber meiner Tochter den Kopf.
»Hallo, Oma«, sagte Elizabeth. Sie spürte, dass es zwischen mir und meiner Mutter Spannungen gab, und war deshalb recht zurückhaltend.
»Was führt dich her?«, fragte meine Mutter. »Ich dachte, du hättest so viel Arbeit.« Ich arbeitete als Kunsttherapeutin vorwiegend mit psychisch kranken Kindern, aber auch mit Vietnam-Veteranen oder anderen Menschen mit posttraumatischem Stresssyndrom.
»All die Jahre, die du für mich gesorgt hast«, sagte ich. »Ich fand, jetzt sollte ich mal für dich sorgen.«
Ich kochte für uns alle und ging mit meiner Mutter spazieren. Ich wusch sie und las ihr vor. Meine Schwestern übernahmen den Verkaufsstand, und ich beaufsichtigte meine Mutter.
Im Grunde genommen waren meine Beweggründe egoistisch. Ich wollte reinen Tisch machen. Wenn meine Mutter tot war, wollte ich mir nichts vorwerfen müssen.
Sie verfiel mit erschreckender Geschwindigkeit. Durch die Steroide veränderte sich ihr Gesicht, und wenn ich versuchte, ihre Haare zu frisieren, schob sie meine Hand weg, und die feinen weißen Haare standen vom Kopf ab, als stünde sie unter Strom.
Ich hatte damit gerechnet, dass meine Mutter in die Kirche gebracht werden wollte, und hatte bereits Jim damit beauftragt, der immer am Wochenende zu uns kam. Aber als ich es meiner Mutter anbot, zuckte sie nur die Achseln.
»Hab genug gehabt von dem Zeug«, sagte sie. Ihr Leben lang hatte sie im Sinne der Heiligen Schrift gelebt und war – wie sie selbst es ausdrückte – eine »gottesfürchtige« Frau gewesen. Und nun war das alles schlagartig verschwunden.
Der Tumor saß im Sprachzentrum des Gehirns, was bedeutete, dass meine Mutter häufig wirres Zeug redete; die einzelnen Wörter waren aber noch verständlich. Schwerer zu ertragen war die Tatsache, dass der Wachstumsprozess des Tumors eine zunehmende Enthemmtheit bewirkte.
Meine Mutter, eine Frau, die ihr Leben lang strengstens auf Anstand geachtet hatte, gab nun ungeheuerliche Bemerkungen von sich. In denen wohl die Gedanken zum Ausdruck kamen, die sie nie zuvor geäußert hatte. Und dabei ging es immer wieder um Sex.
Einmal saß sie mit mir in der Küche, während ich für meinen Vater und sie das Essen zubereitete.
»Wie oft will er denn seinen Penis in dich reinstecken?«, fragte sie unvermittelt – womit Jim gemeint war. »Gefällt dir das wirklich?«
Darauf zu antworten, wäre mir wohl schwergefallen – es war aber auch nicht nötig, denn meine Mutter redete sofort weiter.
»Ich mochte Geschlechtsverkehr ja nie«, sagte sie, »aber vielleicht hat dein Vater sich ungeschickt angestellt. Ich habe mich oft gefragt, weshalb man so ein Aufhebens davon macht. Ich wette, bei Burt Reynolds und Dinah war das ganz anders. Versteh mich nicht falsch«, fuhr sie fort, »dein Vater ist ein guter Ehemann. Ich fand es nur immer schwer auszuhalten, dass er ewig in mich reinwollte und dann auf mir rumgerumst ist wie eine alte, klappernde Scheunentür. Dabei wollte ich doch bloß meine Ruhe haben.«
Ein anderes Mal stach ich gerade Kekse aus und legte sie aufs Blech. Elizabeth kam hereingerannt und verlangte ein Erdnussbutter-Sandwich.
»Sei froh, dass die dir nicht die ganze Zeit an der Brust gehangen hat«, sagte meine Mutter. »Ich hab nie verstehen können, wieso Frauen das wollen.«
Ich hätte mir das natürlich auch gewünscht. Hätte ich selbst ein Kind bekommen, hätte ich es unter allen Umständen stillen wollen.
»Ich mochte meine Brüste nie sonderlich«, fuhr meine Mutter fort. »Die haben mir immer nur Ärger gemacht. Aber dein Vater wollte ständig daran herumfingern. Konnte nie genug kriegen, weißt du. Ist vermutlich ’n wilder Hengst, wie man so sagt. Aber vielleicht«, fügte sie hinzu, und ihre Miene verfinsterte sich, »hat auch mein eigener Vater alles verdorben.« Sie sprach über meinen Großvater aus Wisconsin, den wir nie besucht hatten und über dessen Tod in meiner Kindheit meine Mutter nicht sonderlich traurig gewesen war. Ich saß da mit meiner Tochter auf dem Schoß, und mir wurde ganz übel, als ich diese Bemerkung hörte.
»Ich wollte deinem Vater eine gute Frau sein«, sagte sie. »Zu Anfang hab ich sogar gedacht, es könnte mir vielleicht gefallen mit Edwin. Aber schon beim ersten Mal konnte ich an nichts anderes denken als an
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