Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
das sei ja ein Jammer, aber sie hätten sich nie nahegestanden, und wir sollten ihnen dann den Nachruf schicken fürs Familienalbum.«
Zum letzten Mal sprach ich mit meiner Mutter an dem Tag, an dem sie starb. Sie schlief inzwischen fast durchgehend, aber als ich bei ihr saß – ich zeichnete sie –, hatte sie die Augen aufgeschlagen. Meine Schwestern trafen die Vorbereitungen für die Bestattung, und mein Vater hatte sich hingelegt. Deshalb war ich alleine mit ihr, als es geschah.
»Alles in allem warst du eine gute Tochter«, sagte sie. »Nicht die, die ich erwartet hatte. Aber eigentlich gar nicht so schlecht.«
Sie wurde in unserem Familiengrab in einem Birkenwäldchen hinter dem Haus, in der Nähe von einem unserer Bewässerungsteiche, bestattet. Viele Planks leisteten ihr dort Gesellschaft – die Plank’schen Männer, deren Ehefrauen, früh verstorbene Kinder. Als wir an einem regnerischen Tag um die Grube herumstanden, lockerte mein Vater mit dem Spaten Erde, um sie auf den Sarg zu werfen. Meine Schwestern weinten, was ich auch gerne getan hätte, doch die Tränen blieben aus.
Nach dem Tod meiner Mutter sagte ich Jim, dass ich auf dem Grundstück, das mein Vater all die Jahre für mich reserviert hatte, ein Haus bauen und dort leben wolle. Wie gewohnt, war mein Mann bereit, auf meine Wünsche einzugehen.
Unser Haus war eher schlichter Natur – ein paar Zimmer, ein kleines Atelier für mich, eine sonnige Küche mit Blick auf den Teich, in dem mein Vater und ich immer geschwommen waren. Ich wollte mich mehr um meinen Vater kümmern, sagte ich zu Jim. Aber mein Wunsch, wieder auf der Farm zu leben, hatte noch andere Gründe. Meine Wurzeln an diesem Ort reichten viel tiefer, als ich bislang geahnt hatte.
Ich fand eine Teilzeitstelle als Kunstlehrerin für Kinder und arbeitete zusätzlich in Concord, der Hauptstadt von New Hampshire, als Kunsttherapeutin mit psychisch kranken Erwachsenen, vorwiegend Vietnam-Veteranen mit posttraumatischem Stresssyndrom. Jim behielt sein Büro bei Boston. Er hatte zwar eine Stunde Fahrt zur Arbeit, nahm das jedoch klaglos hin.
Wir hatten ein angenehmes Leben. Unsere Tochter liebte die Farm, und obwohl mein Vater zuerst verkündet hatte, es sei ja wohl seltsam, dass die Amerikaner erst gegen die Koreaner Krieg führten und dann ihre Kinder adoptierten, vergötterte er Elizabeth. Sie fuhr mit ihm Traktor, wenn er die Felder pflügte, half bei der Kürbisernte und schnitt Zinnien. Wie er es einst auch mir erklärt hatte, zeigte er nun meiner Tochter, wie man nach der Ernte das Erdbeerbeet für die nächste Saison vorbereitet, indem man die fünf kräftigsten Tochterpflanzen im Kreis um die Mutterpflanze setzt.
»Töchter«, sagte er zu Elizabeth, als sie gemeinsam pflanzten. »Gibt nichts Besseres als eine gute Tochter.«
Ich arbeitete viel, war aber zufrieden mit meinen Tagen. Vormittags unterrichtete ich die Grundschulkinder in unserem kleinen Ort – machte Collagen, Tiere aus Ton und Kartoffelstempel mit ihnen und fand dabei die Ruhe, die ich danach für die anstrengende Arbeit mit den psychisch Kranken brauchte. Mit meinem Dasein als junge Künstlerin vor vielen Jahren hatte diese Tätigkeit nicht mehr viel zu tun. Manche Menschen in dem Kellerraum des Krankenhauses in Concord, denen ich zu helfen versuchte, waren so stark depressiv oder anderweitig psychisch krank, dass ich sie nie auch nur ein einziges Wort sprechen hörte.
Aber viele von ihnen malten wunderschöne, ausdrucksstarke Bilder – vielleicht weil diese Menschen gänzlich unbehindert waren von gesellschaftlichen Konventionen. Ein Mann schuf ein Porträt von einer Frau, das über das Papier hinausreichte – Augen, die in die Tiefe zu dringen schienen, kühne kraftvolle Pinselstriche, die förmlich bebten vor Gefühl. Ein anderer Mann zeichnete gerne Porträts von Baseballspielern aus den Sechzigern und umgab die Zeichnung dann mit Informationen zu deren Laufbahn. Eine Frau malte nur Babys, eine andere gestaltete ein Selbstporträt aus Streichhölzern.
Wenn ich mir die Arbeiten meiner Patienten ansah, stellte ich mir oft vor, wie sie wohl in einer renommierten New Yorker Galerie wirken würden – Kritiker würden sich überschlagen vor Begeisterung, es würde Auszeichnungen hageln. Und manchmal empfand ich in diesem traurigen Raum, inmitten dieser Menschen, die mit Medikamenten so vollgestopft waren, dass sie nur noch schlurften und kaum sprachen, tatsächlich etwas wie Neid auf deren Kunst, da ich
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