Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
Vom Netzwerk:
spazierte mit meinem Vater über die Felder. Er wollte mir das Stück Land zeigen, das er mir zugedacht hatte.
    »Ich dachte, das da wäre am passendsten für dich, weil es am nächsten am Teich liegt«, sagte er. »Die Sonne scheint hier schon frühmorgens, und du stehst doch immer früh auf. Ihr könntet hier bauen.«
    »Ich würde es nicht aushalten, so nah bei Mom zu leben«, sagte ich.
    »Deine Mutter gibt ihr Bestes«, erwiderte er. »Sie sieht die Dinge eben anders als du. Aber dein Wohl ist ihr immer am wichtigsten.«
    Ich blieb stumm und fragte mich, ob er wusste, was meine Mutter an jenem Tag zu Ray gesagt hatte. Doch ich würde niemals fragen.
    »Nachdem du damals weggegangen bist«, sagte mein Vater, »hat sie dieses Skizzenbuch gefunden. Ich nehme mal an, du hattest es absichtlich auf den Tisch gelegt.«
    »Meine Zeichnungen.« Die Bilder aus meiner Jugend. Entstanden zu einer Zeit, als ich nur zu zeichnen brauchte, um etwas Wunderbares und Aufregendes zu erleben. Und als ich glaubte, die einzigen Grenzen im Leben bestünden in Grenzen der Fantasie.
    »Ich dachte, sie würde einen Herzinfarkt kriegen, wenn sie die Bilder sieht«, sagte ich. »Vielleicht habe ich das insgeheim gehofft.«
    »Auch deine Mutter hat in ihrer Jugend Dinge erlebt, die nicht gut für sie waren«, sagte er. »Die haben ihre Weltsicht geprägt. Sie fürchtet sich vor manchem, was anderen Menschen Spaß macht.«
    »Ich habe sie ja nicht gebeten, so zu denken wie ich. Es wäre bloß besser gewesen, sie hätte mich in Ruhe gelassen und mir einfach erlaubt, anders zu sein.«
    »Manchmal gibt es Gründe, die man nicht sehen kann, Ruth«, entgegnete er. »Und die zwingen einen dazu, manches zu tun, was auch schmerzhaft ist. Vielleicht wollte sie dich schützen. Eben weil sie dich liebt.«
    »Das Skizzenbuch hat sie doch bestimmt in den Ofen geworfen«, sagte ich.
    »Nein, sie hat es aufgehoben. Ich muss zugeben, dass mich das gewundert hat. Sie sagte damals, du könntest wirklich gut zeichnen. Und das würde sie an Val Dickerson erinnern.«

Dana
    Eine gewisse Härte
    N achdem man Clarice aus moralischen Gründen die feste Professorenstelle verweigert hatte (ihr aber jede Menge Arbeit wie zusätzliche Einführungsveranstaltungen auflud), wurde alles anders. Sie war immer ein positiver Mensch gewesen, der in anderen vor allem das Gute sah. Nun machte sich nicht nur Wut bei ihr bemerkbar, sondern auch etwas, das mich sehr schmerzte: Bitterkeit.
    Ich hatte ihre Sanftheit und Offenheit im Umgang mit Menschen stets sehr geliebt, obwohl ich selbst ganz anders war. Doch jetzt spürte ich, wie eine gewisse Härte Besitz ergriff von der Frau, die ich liebte – etwas Zynisches, als würde sie ständig auf die Pointe eines bösartigen Witzes warten.
    »Ich werde natürlich in die Uni gehen«, sagte sie. »Aber all diese Überstunden, Gespräche mit Studierenden, Exkursionen zu Kunstmuseen in Boston – damit ist nun Schluss. Ab jetzt gibt es Dienst nach Vorschrift, von neun bis fünf.«
    Darüber hätte ich mich normalerweise gefreut, weil wir dann mehr Zeit für uns gehabt hätten. Aber ich merkte, wie sehr Clarice dies alles zusetzte. Wenn sie jetzt morgens zur Uni aufbrach, hörte ich oft einen scharfen und verletzten Unterton in ihrer Stimme.
    »Es ist mal wieder so weit«, sagte sie. »Wie oft soll ich diese Vorlesung über Leonardo da Vinci wohl noch halten?«
    Wenn sie nach Hause kam, war sie müde und erschöpft und antwortete einsilbig auf meine Fragen nach ihrem Tag. Nach Telefonaten mit Studenten legte sie auf und seufzte. »Wofür halten die mich? Für ihre Mutter?«
    Ich brachte das Thema Adoption wieder auf, was wir nach der abgelehnten Professur vorerst fallen gelassen hatten. »Du brauchst keine Gehaltserhöhung, damit wir ein Kind großziehen können«, sagte ich. »Wir kriegen das auch so hin.«
    »Ich bin jetzt vermutlich sowieso zu alt dafür«, erwiderte sie. Ich sagte ihr, sie sei doch verrückt. Clarice war erst vierundvierzig.
    »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, sagte sie. »Ich habe dieses seltsame taube Gefühl in den Zehen.«
    Das stimmte. Sie war beim Arzt gewesen, der ihr gesagt hatte, sie müsse sich für ihren Kreislauf mehr bewegen. Doch an dem tauben Gefühl änderte sich nichts.
    »Wir würden tolle Eltern sein«, flüsterte ich, als ich Clarice auf unserem Messingbett in den Armen hielt. »Irgendwo da draußen gibt es ein Kind, das ein Zuhause braucht. Und wir könnten es ihm geben, einem Mädchen oder

Weitere Kostenlose Bücher