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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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meinen Vater.«
    Ich hielt Elizabeth ganz fest; nicht so sehr, weil sie es brauchte, sondern weil es mir eine Hilfe war. Im Grunde wollte ich nachfragen, aber ich fürchtete mich vor dem, was meine Mutter mir erzählen würde.
    »Und die haben sich noch gewundert, dass ich erst wieder nach Wisconsin gekommen bin, als der tot war«, sagte sie aufgebracht. »Versteh ich nicht. Wer würde so einen Scheißkerl schon wiedersehen wollen?«
    So viele Jahre hatte meine Mutter uns aus der Bibel vorgelesen, war regelmäßig zur Kirche gegangen und hatte uns den Mund mit Seife ausgewaschen, wenn wir »verdammt« oder »zum Teufel« sagten. Meine neue – todgeweihte – Mutter nun redete daher wie ein betrunkener Seemann.
    »Als er dann tot war, hab ich gedacht, ich könnt endlich mit meinen Schwestern darüber reden«, fuhr sie fort. »Bin mit meinen Mädchen die ganze weite Strecke nach Milwaukee im Bus gefahren. Und dann sagt meine Schwester als Erstes: ›Ich will mal eins klarstellen. Wir kramen jetzt hier nicht in der Vergangenheit rum, Connie. Paps ist tot. Und damit hat sich’s.‹ Dabei wollte ich bloß meine Mutter fragen, wieso sie das zugelassen hat. Mütter sollen ihre Töchter doch beschützen.«
    An dieser Stelle hätte ich einiges zu sagen gewusst. Glaubte sie vielleicht, sie hätte mich beschützt, indem sie in British Columbia auftauchte und mir den einzigen Mann wegnahm, den ich jemals geliebt hatte?
    Es war mir noch immer ein Rätsel, wie sie es geschafft hatte, dass Ray, der mich zur großen Liebe seines Lebens erklärt hatte, mich fortschickte. Wie eine Frau, die daran glaubte, dass das Leben mit der Empfängnis begann, mich in eine Abtreibungsklinik schleppen konnte. Nun hatte ich die letzte Gelegenheit, meine Mutter nach alldem zu fragen. Doch ich schwieg.
    Manchmal, wenn ihr nackter Körper vor mir auf dem Laken lag und ich den Schwamm über ihre Haut gleiten ließ, um sie zu waschen, suchten die Bilder mich wieder heim, und ich hatte plötzlich den gemeinen Wunsch, ihr wehzutun – zu fest zu schrubben oder ihre Haare zu bürsten, ohne zuvor die Knoten zu lösen. Und dieser Wunsch, ihr Schmerzen zuzufügen – dem ich natürlich nicht nachgab –, stellte sich dann ein, wenn die Erinnerungen hochkamen: Wie meine Mutter neben mir im Wartezimmer saß und die Formulare für den Abbruch ausfüllte, weil ich vollkommen in Tränen aufgelöst war. Die Krankenschwester, die mir den Kittel reichte. Wie ich auf dem gynäkologischen Stuhl lag und meine Mutter sagte: »Ich weiß, was das Beste für dich ist.«
    Das Taxi zum Flughafen. Der lange Rückflug. Briefe nach British Columbia, die zurückkamen, ohne Adressenangabe. Noch jetzt, da meine Mutter dem Tod ins Gesicht blickte, gab ich ihr die Schuld daran und hätte sie am liebsten gefragt: Wie konntest du mir das antun?
    In diesen letzten Monaten ihres Lebens redete meine Mutter wie ein Wasserfall; umso erstaunlicher war es, dass sie so gut wie nie auf Val Dickerson zu sprechen kam. Jahrzehnte war ihr die Beziehung zu dieser Familie mit dem Mädchen, das am selben Tag wie ich geboren war, so wichtig gewesen. Doch als sich das Ende ihres Lebens näherte, schienen Dickersons ihr einerlei zu sein. Es gab allerdings einen einzigen Tag, an dem sie über Val sprach.
    »Ich frag mich, wie man sich fühlt, wenn man so hübsch ist wie die«, sagte sie. »Der sind die Männer bestimmt in Scharen nachgelaufen. Kann man den Kerlen auch nicht verdenken, wenn sie sich an so eine ranmachen wollen. Die langen Beine und die blonden Haare. Unten sicher auch. Du bist bestimmt genauso.«
    So war es nun mit meiner Mutter. Endlose Monologe, und wenn man ihr zuhörte, fühlte man sich derart angewidert, wie wenn man ein vermodertes Holzstück umdreht und allerlei grässliches Gewürm darunter entdeckt. Stundenlang saß ich bei ihr und war dankbar, wenn meine Tochter zu mir kam und manchmal auf meinem Schoß einschlief. Nach all den bösartigen Bemerkungen meiner Mutter über den Zustand der Menschen war es tröstlich, Elizabeth in den Armen zu halten und ihrem leisen Schnarchen zu lauschen.
    »Und was soll das Ganze?«, fragte meine Mutter. »Wie lange dauert diese ganze Sexsache überhaupt? Fünf Minuten, zehn vielleicht. Das Wichtigste daran ist, das Kind zu kriegen und es großzuziehen. Was ich mit euch getan hab. Das war mir das Wichtigste im Leben: eine gute Mutter zu sein.«
    »Du hast dein Bestes gegeben«, erwiderte ich. Selbst in dieser Lage konnte ich eine gewisse innere

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