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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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einem Jungen.«
    »Wir würden wahrscheinlich wegen unserer Lebensform ohnehin abgelehnt«, entgegnete Clarice.

Ruth
    Für dich sorgen
    D ass meine Mutter so berechenbar war, hatte mich immer furchtbar an ihr gestört. In ihren Sechzigern bemerkte mein Vater allerdings sonderbare Verhaltensweisen an ihr. Sie war tagaus, tagein im Morgengrauen aufgestanden, um meinem Vater Kaffee zu kochen, bevor er zum Stall ging – nun blieb sie bis neun oder zehn im Bett, schlief oder lag einfach nur da. Wenn mein Vater oder meine Schwestern sie fragten, ob sie krank sei, wurde sie wütend.
    »Kann man sich hier nicht mal ausruhen, ohne einem Verhör unterzogen zu werden?«, erwiderte sie.
    Auch die Gerichte, die sie ihr Leben lang gekocht hatte – gebackene Bohnen, Maiseintopf, Truthahn-Pie, Maisbrot, Kekse mit Schokosplittern –, schmeckten plötzlich anders. Bis jemand merkte, dass sie eine wichtige Zutat wie Salz oder Mehl vergessen hatte oder etwas angebrannt war.
    Sie wiederholte sich ständig und verlegte Dinge – ihre Brille, die Autoschlüssel, sogar ihre Handtasche – und brach in Tränen aus, wenn sie die Sachen nicht fand. Einmal war sie zum Gewächshaus unterwegs, um meinem Vater zu sagen, dass ein Vertreter da sei, der ihm eine neue Wasserpumpe anbieten wolle. Auf halber Strecke vergaß sie ihr Vorhaben und kehrte um.
    »Was sollte ich machen?«, sagte sie zu dem Vertreter. »Das ist alles so verwirrend.«
    An Weihnachten wurde dann endgültig klar, wie schlimm es um sie stand. Wir hatten uns zum traditionellen Truthahnessen niedergelassen, und mein Vater bat meine Mutter, wie immer aus der Bibel vorzulesen. Meine Mutter schlug die Familienbibel auf, rückte ihre Brille zurecht, räusperte sich und begann vorzulesen.
    Aber sie gab ein wirres Kauderwelsch von sich. Wir waren alle so erschüttert, dass keiner sich rührte, bis sie zu Ende gelesen hatte.
    Am nächsten Tag brachte mein Vater sie ins Krankenhaus. Eine Kernspintomografie wurde angeordnet, die aber erst später stattfinden konnte. Es war schon Frühjahr, als man den inoperablen Tumor im Gehirn entdeckte, ein sogenanntes Glioblastom. Und uns sagte, dass meine Mutter noch eine Lebenserwartung von sechs bis acht Monaten habe.
    Zum Zeitpunkt der Diagnose wohnte ich mit meiner Familie in Boston. Ich brauchte mit dem Auto kaum länger als eine Stunde bis zu unserer Farm, hatte meine Eltern jedoch äußerst selten besucht. Ab und an hatte ich mit meinem Vater telefoniert, meist dann, wenn ich wusste, dass meine Mutter in der Kirche war. So hatte ich auch zuerst von ihrem seltsamen Verhalten und schließlich von der Diagnose erfahren.
    Als mir bewusst wurde, dass meine Mutter in absehbarer Zeit sterben würde, geschah etwas Eigenartiges. Ich wünschte mir, wieder auf der Farm zu leben. Jim arbeitete viel, Elizabeth war in der Vorschule, und ich hatte eine Teilzeitstelle. Und ich fand plötzlich, wir sollten uns um meine Mutter kümmern und in ihrer Nähe sein.
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie Grund gehabt, über ihren Tod nachzudenken; ihr robustes Auftreten und ihre unerschütterliche Gesundheit hatten sie stets unangreifbar wirken lassen. Jetzt schien die Zeit viel zu schnell zu schwinden, und ich hatte das Gefühl, sofort handeln zu müssen, um noch begreifen zu können, was die Gründe für unsere schlechte Beziehung gewesen sein könnten. Früher war meine Mutter eine machtvolle und bedrohliche Kraft in meinem Leben gewesen, doch der Tumor ließ sie nun zum ersten Mal verletzlich erscheinen. Sie hatte keine Kraft mehr, um mir noch so zu schaden wie früher.
    Als ich in mein Elternhaus zurückzog, wollte ich ursprünglich nur ein paar Monate bleiben, um meinem Vater und meinen Schwestern bei der Pflege meiner Mutter zu helfen. Es war Frühjahr, und ich konnte mit Elizabeth all das tun, was ich früher selbst hier gemacht hatte, wie Hühner füttern oder auf dem Traktor mitfahren. Ich sagte mir, dass ich diese Entscheidung vor allem für meine Tochter getroffen hatte – damit sie die Farm und ihre Großmutter noch besser kennen lernen konnte.
    Doch dann wurde mir bewusst, wie sehr mir selbst mein Zuhause gefehlt hatte. Mein Vater, das Land, der Verkaufsstand. Auf sonderbare Weise hatte mir sogar meine Mutter gefehlt, so kühl und kritisch sie mir gegenüber auch immer gewesen sein mochte. Und sosehr sie mich verletzt hatte.
    Als ich vorfuhr, saß sie auf der Veranda. Ihre Haare – bei unserem letzten Treffen noch dunkelbraun – waren schlohweiß

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