Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
etwas so Lebendiges offenbar nicht mehr erschaffen konnte. Ich bildete mir wahrhaftig manchmal ein, dass ich gerne so verrückt wäre wie sie, um wieder die Fähigkeit zu haben, im künstlerischen Prozess ganz aufzugehen. Vielleicht waren sie durch ihr inneres Leid tatsächlich bessere Künstler.
Nachdem ich gegen meinen Willen aus Kanada fortgebracht worden war, hatte ich meine Leidenschaft für das Malen und Zeichnen – und für alles andere bis auf meine Tochter – eingebüßt. Doch ich war eine gute Lehrerin und fand meinen Beruf erstaunlich befriedigend.
Auch mein häusliches Leben war mehr von Handwerk als von Kunst bestimmt, fand ich. Jim und ich waren gute Eltern – respektvoll im Umgang miteinander, liebevoll mit unserer Tochter. Jim arbeitete viel, und am Wochenende unternahmen wir etwas mit Elizabeth, oder er spielte Golf. In unserem Leben gab es tatsächlich nur eines, um das wir uns gemeinsam bemühten, und das war unsere Tochter. Obwohl Jim nur zu gerne auch mich mit Liebe überschüttet hätte. Aber darauf legte ich keinen Wert.
Wir lebten eher wie Geschwister, die sich sehr zugetan waren, denn wie Eheleute. Und ich sagte mir, dass es doch wahrhaftig Schlimmeres gäbe im Leben.
Dana
Wie alles so gekommen ist
P räsident Carter hatte 1977 eine Amnestie für alle Amerikaner erlassen, die während des Vietnamkrieges vor der Einberufung aus dem Land geflüchtet waren. Danach hoffte ich eine Zeit lang, dass ich von meinem Bruder hören würde, aber er meldete sich nicht. Ich rief Val an, um zu erfahren, ob sie etwas von ihm wusste, aber sie war inzwischen so oft umgezogen, dass Ray wohl Mühe gehabt hätte, sie zu finden. Damals lebte sie gerade in Virginia, malte gelegentlich Porträts von Kindern reicher Leute und verdiente sich etwas hinzu, indem sie wieder Grußkarten zeichnete. Als ich die Amnestie zur Sprache brachte, schien sie mir gar nicht richtig zuzuhören.
Mit Ausnahme dieser Lebensphase, in der sie gegen den Krieg protestiert hatte, interessierte Val sich weder für die Ereignisse der Welt noch für die Ereignisse im Leben ihrer Kinder. Wenn wir uns einmal unterhielten – was selten genug vorkam –, sprachen wir meist über ihre Malerei, über das Töpfern, ihr Yoga oder irgendein neues Thema, für das sie sich gerade begeisterte, wie vegane oder makrobiotische Ernährung. Ich erzählte ihr von Clarice, aber sie erkundigte sich nicht nach unserem gemeinsamen Leben. Doch irgendwann berichtete sie mir, dass Ruth Plank wieder auf der Farm ihrer Eltern lebe – dass sie überhaupt davon wusste, fand ich erstaunlich für jemanden, der so wenig Interesse am Leben anderer Menschen an den Tag legte. Irgendwer – vermutlich Edwin – hatte ihr erzählt, dass Ruth Kunst studiert hatte, und das hatte sie aufhorchen lassen.
»Schon komisch, wie sich das Leben so entwickelt«, sagte sie zu mir. »Du hältst Ziegen und produzierst Käse. Und Ruth malt. Fragst du dich manchmal, wie das alles so gekommen ist?«
Ich hatte mir diese Frage noch nie gestellt, aber jetzt dachte ich an meinen Bruder und sagte: »Ich frage mich, ob Ruth vielleicht was von Ray gehört hat.« Ich wusste nichts Genaues, aber mir war klar, dass sich irgendwann etwas zwischen den beiden ereignet hatte.
»Dein Bruder lebt in seiner eigenen Welt«, sagte Val. »Ich rechne nicht damit, ihn jemals wiederzusehen.«
»Das weiß man nie«, erwiderte ich. »Die Lage hat sich geändert. Er kann nach Hause kommen.«
»Was die Regierung verkündet, ist nicht so wichtig«, sagte Val. »Entscheidend ist, was in seinem Kopf vorgeht. Dein Bruder hat schon vor langer Zeit alle Brücken zu uns hinter sich abgebrochen.«
»Er könnte inzwischen verheiratet sein«, wandte ich ein. »Du könntest Großmutter sein und ich Tante. Möchtest du nicht wissen, ob er Familie hat?«
»Weißt du was?«, sagte Val. »Er hat mich mal aus einer Telefonzelle irgendwo in Kanada angerufen und erzählt, er würde ein Kind bekommen.«
Nach all den Jahren bekam ich das zum ersten Mal zu hören. »Und dann?«, fragte ich.
»Er rief nur noch einmal an«, antwortete Val. »Da sagte er, es sei nichts daraus geworden. Er weinte. Danach habe ich nie wieder von ihm gehört.«
Ruth
Eine Reise
E s gab wieder wenig Regen in diesem Sommer, und mein Vater musste den ganzen Juli über die künstliche Bewässerung nutzen. Er hatte deswegen wenig Zeit, sich seiner Trauer hinzugeben. Doch er war sicher in Gedanken oft bei Connie, während er stundenlang auf dem
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