Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Traktor über die Felder fuhr.
Er erledigte immer noch einen Großteil der schweren körperlichen Arbeit selbst, aber meine Schwestern halfen inzwischen häufig mit – und Victor Patucci, der mittlerweile zum Vorarbeiter ernannt worden war.
»Victor liegt mir ständig in den Ohren, dass ich in den Ruhestand gehen und ihm die Farm übergeben soll«, sagte mein Vater eines Abends, als er nach einem langen Tag ins Haus kam. »Aber irgendwas an dem Burschen gefällt mir einfach nicht.«
Wenn mein Vater es auch nicht leicht gehabt hatte, seitdem damals die Scheune niedergebrannt war, so wäre er doch in einer Seniorengemeinschaft in Florida – Victor hatte ihm einmal einen Prospekt gegeben – oder auf einer Seniorenkreuzfahrt zu den Bermudas völlig fehl am Platz gewesen. Er konnte auf seinen Vorarbeiter nicht verzichten, hatte sich jedoch auch nie mit Victors Vorstellungen über die Führung der Farm anfreunden können. Zwar mochte Victor recht damit haben, dass wir die Erträge leichter erwirtschaften könnten, wenn wir auf wenig einträgliche Spezialitäten wie Zinnien und Erbsen – beides liebte mein Vater – verzichten und stattdessen auf Quantität und den »Entertainmentfaktor«, wie Victor das nannte, setzen würden.
Aber meinem Vater ging es um viel mehr als Geld.
»Wenn wir nur Anbau betreiben und Pflanzen ziehen könnten, ohne etwas verkaufen zu müssen, wäre das Leben perfekt«, sagte er.
Für Victor dagegen ging es nur um Profit. »Das ist ein Erbsenzähler, kein Farmer«, sagte mein Vater. »Der will nur sein Bankkonto wachsen sehen, sonst nichts.«
Wäre meine Mutter noch am Leben gewesen, hätte sie abends bei ihm gesessen, an einem Quilt gearbeitet und sich die Berichte meines Vaters über den Zustand der Maispflanzen und die anstehende Tomatenernte angehört. Doch nun waren die Abende für ihn wohl sehr einsam. Meine Schwestern und ich besuchten ihn zwar, sooft wir konnten, und brachten ihm auch häufig das Abendessen. Doch er kam meist so spät herein, dass er dann doch alleine essen musste.
Als der Herbst kam und der erste Frost hereinbrach, wurde mein Vater ruhelos. Nach der Kürbisernte gab es kaum mehr Arbeit auf der Farm. Er ging mit seinem Hund Sam spazieren und warf Stöcke für ihn oder spielte stundenlang Solitär.
»Ich wünschte, die verdammten Samenkataloge würden endlich kommen«, sagte mein Vater schon im November. Doch er musste sich noch zwei volle Monate gedulden, bis sie eintrafen und er die Bestellungen fürs nächste Jahr aufgeben konnte.
Anfang Dezember verkündete mein Vater, dass er eine Reise machen wolle. »Ich dachte mir, ich schau mal bei Val Dickerson vorbei«, sagte er. »Ist ja schließlich eine alte Freundin von uns.«
Ich hatte Val jahrelang nicht gesehen und wusste nicht einmal mehr, wo sie inzwischen wohnte. Aber mein Vater hatte offenbar von Dana erfahren, dass Val in Virginia lebte und dort eine Töpferwerkstatt hatte.
»Das ist aber eine weite Fahrt«, gab ich zu bedenken.
»Ich fahr gerne lange Strecken mit dem Auto«, erwiderte mein Vater, auch wenn er solche Reisen meiner Erinnerung nach kaum gemacht hatte – abgesehen von unseren einstigen Frühjahrsbesuchen bei Dickersons.
»Wann bist du denn schon lange Strecken mit dem Auto gefahren, Dad?«, fragte ich.
»Das mein ich ja grade. Wird höchste Zeit, dass ich so was mal mache. Ich kann mir auch ein paar historische Sachen angucken. Mal was vom Land sehen.«
Am Tag vor seiner Abreise ging er zum Friseur, anstatt sich wie üblich von meiner Schwester Sarah seine restlichen Haare schneiden zu lassen. Als ich abends bei ihm vorbeischaute, sah ich ein kleines Geschenkpäckchen auf dem Tisch liegen.
»Man möchte ja nicht mit leeren Händen kommen«, erklärte er. Er hatte für Val eine Anstecknadel mit einer Primrose, der Blume des Bundesstaates New Hampshire, gekauft.
Im Morgengrauen fuhr er los, angetan mit nagelneuen Jeans mit Bügelfalte, Hemd und Krawatte. Wegen der Kälte trug er natürlich auch seine Jacke von L. L. Bean. Als ich ihn zum Abschied küsste, stieg mir der Duft von Rasierwasser in die Nase.
Er hatte alles so geregelt, dass Sam und die Usambaraveilchen meiner Mutter eine ganze Woche lang versorgt waren. Da er im Grunde genommen zum ersten Mal in seinem Leben Urlaub machte, wollte er sich ein bisschen Zeit lassen in Virginia.
Zweiundsiebzig Stunden nach der Abfahrt war er wieder zuhause. Ich hörte seinen Wagen kurz nach Mitternacht auf der Zufahrt. Offenbar war er von
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