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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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verlassen. Beide Frauen, die meine Mütter gewesen waren, lebten nicht mehr. Ich würde nie mehr die Gelegenheit bekommen, unsere Geschichte zu begreifen. Und nun war auch mein Bruder, der mir immer so viel bedeutet hatte, abermals verschwunden. Clarice war noch an meiner Seite, aber gewiss auch nicht mehr allzu lange. Und George war überhaupt nie für mich da gewesen.
    Doch dann wurde mir noch etwas anderes bewusst: Ein Elternteil war noch übrig. Edwin Plank.
    Und ich spürte einen Anflug von Freude. Ich hatte keine Mutter mehr. Aber zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen Vater.

Ruth
    Ein romantisches Paar
    M eine Schwestern erzählten nicht viel von Val Dickersons Trauerfeier. Aber sie berichteten, dass Ray aufgetaucht war.
    Zwei Tage zuvor war mein Sohn Douglas geboren worden, den ich gerade stillte, während wir uns unterhielten. Vielleicht eine etwas unpassende Situation, um sich nach einem Mann zu erkundigen, den man seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich tat es dennoch.
    »Wie ist er jetzt?«, fragte ich.
    »Ziemlich hager«, antwortete Naomi. »Und ein bisschen seltsam. Aber das war er ja immer schon.«
    Ich wollte wissen, ob er noch in Kanada wohnte. Ob er verheiratet war. Wovon er lebte. Aber meine Schwestern wussten nicht mehr. Dana hätte neben einer Frau gesessen, und die beiden hätten sich an der Hand gehalten, berichteten sie. Die Familie Dickerson sei eben immer schon ziemlich eigenartig gewesen.
    Heute glaube ich, dass meine Schwestern damals über ihre Gefühle beim Anblick von Dana gesprochen haben. Aber meine Schwestern und ich redeten nie viel miteinander, und wir hatten auch genug anderes im Kopf.
    Finanziell stand es schon lange schlecht um die Farm, doch zu den Schulden gesellte sich nun eine weitere Sorge: Die Demenz unseres Vaters war inzwischen so weit fortgeschritten, dass man ihn nicht mehr zuhause betreuen konnte. Esther hatte einen Termin zur Besichtigung eines Pflegeheims vereinbart.
    Inzwischen versuchten uns andere Grundstücksentwickler zum Verkauf unseres Landes zu überreden. Doch obwohl deren Höchstgebot weit unter dem Wert lag, den meine Schwestern und ihre Männer für die Farm ansetzten, war ich die Einzige, die sich den Verkaufsplänen widersetzte. Unser Vater war zwar nicht mehr er selbst, doch er lebte noch, und wir wussten alle, was seine Meinung zu diesem Thema gewesen wäre. Aber er verbrachte inzwischen seine Tage vor dem Fernseher oder schaute einfach nur aus dem Fenster. Seine Reaktion auf Val Dickersons Tod war einer der wenigen Momente gewesen, in denen er scheinbar noch Zusammenhänge erkennen konnte.
    »Du weißt doch, wie das laufen würde«, sagte ich zu Jim, nachdem gerade das neueste Angebot eingegangen war. »Meine Schwestern können sich auch noch nicht recht entschließen, meinem Vater die Farm wegzunehmen, solange er noch lebt. Doch wenn er stirbt, werden sie nur noch das Geld haben wollen.«
    »Vielleicht wäre es am besten so«, erwiderte Jim. Er hatte mir den Wunsch erfüllt, hierher zu ziehen, aber im Grunde fühlte er sich auf dem Land nicht wohl. Und nachdem wir nun ein zweites Kind hatten, würde ihm die weite Fahrt nach Boston noch schwerer fallen.
    »Esther und Sarah wollen sich in Florida zwei benachbarte Apartments kaufen«, berichtete ich; Esther war geschieden, Sarah verwitwet. »Naomi und Albert wollen wegen der Enkel in die Nähe von Las Vegas ziehen. Und Winnie und Chip wollen sich so einen gigantischen Wohnbus anschaffen, damit sie durchs Land fahren und in die Spielkasinos gehen können. Im Grunde bin ich froh, dass Dad das alles nicht mehr mitkriegt.«
    »Deine Schwestern haben ein Recht auf ein eigenes Leben«, wandte Jim ein. »Und offen gestanden, wäre ich froh, wenn auch wir nicht so viel Zeit für die Farm aufwenden müssten. Ich glaube eigentlich, dass du dich über mehr Geld und Freiheit freuen würdest. Du könntest wieder mit dem Malen anfangen.«
    »Ich hab ein Baby und eine Elfjährige, um die ich mich kümmern muss«, sagte ich. »Ich werde jetzt ganz bestimmt nicht davonlaufen, mir ein Atelier mieten und so tun, als wäre ich eine Malerin. Außerdem muss ich für meinen Vater sorgen.«
    »Er muss in ein Heim. Deine Schwestern denken einfach vernünftig und praktisch.«
    »Er liebt diese Farm. Und ich auch.«
    »Wenn du nicht dauernd so mit der Farm beschäftigt wärst, hättest du vielleicht ein bisschen mehr Zeit für uns beide«, sagte Jim leise.
    »Wenn man ein kleines Kind hat, sind

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