Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
sagen wolle. Zunächst rührte sich niemand, doch dann kam eine der Plank-Schwestern, Edwina, nach vorne.
»Meine Schwester Ruth bekommt heute ein Kind«, sagte sie und entfaltete ein liniertes Blatt. »Aber sie hat mich gebeten, das hier vorzulesen.«
Es waren nur ein paar Sätze. Ich stellte mir vor, dass Ruth sie geschrieben hatte, als die Wehen schon einsetzten. Und ich fragte mich, ob sie möglicherweise schon wusste, was mir erst in der letzten Stunde klar geworden war.
»Unsere Familien haben sich kennengelernt, weil Dana und ich am selben Tag in derselben Klinik geboren wurden«, begann Edwina ein wenig unbeholfen. »Und man würde vielleicht nicht vermuten, dass daraus eine spezielle Bindung entstehen könnte. Doch wenn ich Val als junges Mädchen nicht immer wieder getroffen hätte, dann hätte ich vielleicht niemals erfahren, dass eine Frau Künstlerin sein kann. Val war Künstlerin, und das gab mir den Glauben, dass auch ich das eines Tages werden könne.«
Edwina faltete das Blatt zusammen und setzte sich wieder. Es wurde noch ein kurzes Sufi-Gebet gesprochen, dann schien die Trauerfeier beendet. Doch plötzlich erhob sich ein hagerer Mann, der ganz hinten gesessen hatte und den ich zuvor nicht bemerkt hatte. Er ging nach vorne, und es dauerte einen Moment, bis ich erkannte, wer dieser Mann war.
Über zwanzig Jahre waren vergangen, seit ich Ray zum letzten Mal gesehen hatte. Man hätte vermuten können, dass er inzwischen vom Leben gezeichnet war und sein gutes Aussehen eingebüßt hatte. Er war tatsächlich sehr mager und hatte scharfe Falten im Gesicht. Und er trug ein Sakko mit zu kurzen Ärmeln, das gebraucht aussah. Seine Haare waren kurz geschoren.
Aber all das spielte keine Rolle. Ray war nach wie vor ein attraktiver Mann. Und ich spürte auch diesen Charme, diesen ganz besonderen Zauber, den ich – die Unscheinbare, die Menschen nur durch Beharrlichkeit und Fleiß beeindrucken konnte – stets an meinem Bruder bewundert hatte. Mir fielen auch wieder seine langen Wimpern auf, von denen die Leute damals gesagt hatten, dass sie besser zu mir als zu einem Jungen gepasst hätten. Und als Ray lächelte – was ich nicht erwartet hätte –, sah man seine erstaunlich weißen Zähne.
Er erzählte eine Geschichte aus jenem Sommer, als meine Eltern binnen eines Tages beschlossen hatten, die Muschelbude von Georges Freund zu übernehmen, und wir nach Maine zogen.
»Als wir da ankamen, stellte sich heraus, dass das Ordnungsamt die Bude bereits geschlossen hatte«, sagte Ray und schüttelte den Kopf. »Zu dieser Zeit durften wegen der Algenblüte keine Muscheln mehr verkauft werden. Deshalb verhökerte Val an der Bude Obst- und Gemüsesäfte. Aber das war damals noch nicht so angesagt. Man könnte wohl sagen, dass sie ihrer Zeit weit voraus war. George hatte also wie üblich einen Haufen Kohle verloren, und Val malte weiterhin ihre Bilder. Als Mutter war Val nicht grade die Idealbesetzung, ehrlich gesagt. Aber sie konnte tollen Joghurt machen.«
Die Geschichte sollte eigentlich witzig sein, und ein paar Leute lachten auch, verstummten aber sofort wieder. Denn im Grunde hatten Rays Worte nur verdeutlicht, wie ziellos und verloren unsere Familie gewesen war.
Wir hatten als Kinder nie gewusst, wo wir waren und wie lange wir dort sein würden. Nicht einmal, wer wir waren. Und in meinem Fall hatte diese Unklarheit auch einen tieferen Grund gehabt, wie sich nun herausgestellt hatte. Über vierzig Jahre hatte ich mit einer falschen Vorstellung von mir selbst gelebt.
Nachdem Ray seine Ansprache beendet hatte, blieb er stumm stehen und griff dann in die Tasche seines Sakkos. Vermutlich fragte sich in diesem Moment jeder im Raum, ob er nicht vielleicht ein Amokläufer war. Er hätte eine Pistole ziehen können.
Doch was er zum Vorschein brachte, war seine Mundharmonika. Er begann Shenandoah zu spielen, und es klang wehmütig und bezaubernd zugleich. Mitten im Song brach er ab. Im Text lautete die Zeile an dieser Stelle: »I’m bound to leave you«. Es mochte Zufall sein oder auch nicht, dass Ray hier zu spielen aufhörte. Er steckte die Mundharmonika weg und kehrte zu seinem Platz zurück.
Als schließlich alle Trauergäste Abschied von Val nahmen, hielt ich Ausschau nach meinem Bruder. Ich konnte ihn nirgendwo entdecken und dachte zuerst, er sei auf die Toilette gegangen. Doch als er nicht mehr auftauchte, verstand ich. Er war wieder einmal verschwunden.
Ich fühlte mich schlagartig von aller Welt
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