Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Beziehungen eben nicht so romantisch«, erwiderte ich. »Das ist ganz normal.«
Doch in meinem tiefsten Inneren wusste ich, dass wir nie ein romantisches Paar gewesen waren.
Dana
Nahezu vollkommen
I ch hatte Clarice immer alles erzählt, was ich erlebte, und glaube, sie hielt es genau so mit mir. Und ich ließ sie ständig an meinen Gedanken und Gefühlen teilhaben. Das tat ich beinahe abergläubisch – als könne womöglich sonst ein winziger Riss zwischen uns entstehen, der sich zu einem Spalt auswachsen mochte.
Ihre Diagnose veränderte auch das. Wenn ich jetzt an die Zukunft dachte – in der ich alleine sein würde –, behielt ich meinen Schmerz für mich. Und da es nun kaum mehr ein anderes Gefühl als Schmerz für mich gab, ging uns auch unsere einstige Nähe verloren. Wir liebten uns deshalb nicht weniger – eher mehr, sofern das überhaupt möglich war. Doch ich spielte nun jeden Tag die Rolle einer fröhlichen Person.
Ich glaubte, dass Clarice sich das wünschte. Sie schien so lange wie möglich weiterleben zu wollen, als sei nichts geschehen. Und da ich bereit war, alles für sie zu tun, ließ ich mich darauf ein.
Aber ich bezahlte einen hohen Preis dafür.
Nur wenn ich alleine war, gab ich mich meiner Trauer hin – in der Scheune beim Melken der Ziegen oder beim Käsemachen ließ ich den unzähligen Erinnerungen freien Lauf.
Vor zwei Jahren hatten wir eine Fahrt zum Mount Desert Island in Maine gemacht, und ich sah vor meinem inneren Auge, wie wir Blaubeeren pflückten und uns gegenseitig fütterten. Einen Turm aus flachen Steinen bauten. Wie wir uns später im Zelt in den Armen hielten, als draußen ein Gewitter tobte.
Ich dachte an unseren Traum, Eltern zu werden, den wir dann aufgegeben hatten, und stellte mir vor, wie Clarice als Schwangere ausgesehen hätte – sie wäre gerne schwanger geworden, und ich hätte sie wunderschön gefunden mit geschwollenen Brüsten und kugelrundem Bauch.
In unseren ersten gemeinsamen Monaten hatte sie mir geschildert, wie ihr Vater all ihre persönlichen Dinge vor dem Haus angezündet hatte, nachdem sie ihren Eltern ihre Liebe zu Frauen offenbart hatte. Familienfotos, Kinderspielzeug, Erinnerungsstücke – alles ging in Flammen auf, und die Mutter schaute durchs Fenster zu. Clarice hatte zitternd in meinen Armen gelegen, als sie damals darüber sprach, und noch Stunden danach hatte ich sie gestreichelt – ich fand keine Worte, um sie zu trösten, aber Worte waren auch nicht nötig.
Doch nachdem ich nun die Wahrheit über meine Familie erfahren hatte – den Grund für Vals und Georges sonderbare Distanziertheit, für Connies Aufdringlichkeit und das Zutrauen, das ich Edwin gegenüber immer empfunden hatte –, sprach ich nicht mit Clarice darüber. Diese Geschichte wollte ich der Frau, die ich liebte und die selbst mit schrecklichen Verlusten zu tun hatte, nicht aufbürden. Ich wollte ihr eine Partnerin sein, die keine eigenen Bedürfnisse oder Nöte hatte – außer dieser einen entsetzlichen Tragödie: ihrem nahenden Tod.
Und da ich entschieden hatte, Clarice nichts von meiner Entdeckung zu sagen, konnte ich auch nicht mit Ruth darüber sprechen. Das allerdings fiel mir nicht schwer. Wir waren unser Leben lang nur durch Connies Drängen verbunden gewesen und kannten uns kaum. Ich konzentrierte mich jetzt einzig und allein darauf, für Clarice zu sorgen und so lange wie möglich die Illusion unseres alten Lebens aufrechtzuerhalten. Das, wie mir jetzt umso deutlicher wurde, eine Art Wunderwerk gewesen war.
Im ersten Jahr nach der Diagnose konnten wir beinahe leben wie früher, waren uns jedoch der Kostbarkeit eines jeden Tages bewusst. Zuerst waren die Symptome der Krankheit noch so geringfügig, dass ich mir manchmal einredete, die Ärzte hätten sich geirrt. Vielleicht war ihr Fall einfach ganz anders, und es würde nichts Schlimmeres passieren. Sie hatte dieses taube Gefühl in Zehen und Fingerspitzen, ihr Bein gab manchmal nach, und wenn sie müde war, fiel es ihr schwer, Messer und Gabel zu benutzen, aber damit konnten wir leben.
Es ist erschreckend, wie schnell sich die Wahrnehmung verändert, wenn eine Krankheit ins Spiel kommt. Früher hatte es mich immer genervt, dass Clarice die Schachtel mit den Kaffeefiltern ungeschickt aufriss; inzwischen war ich froh, dass sie ihren Kaffeebecher noch alleine halten konnte.
Im ersten Jahr ging Clarice weiterhin zur Uni. Von einer Freundin im Fachbereich abgesehen, hatte sie niemanden von ihrer
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