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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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blieb lange bei ihr liegen, bis zum frühen Morgen. Dann ging ich nach draußen und vergrub die Spritze. Es war mir einerlei, ob man das Betäubungsmittel in ihrem Blut finden würde, falls eine Autopsie vorgenommen wurde. Doch niemand ordnete eine Untersuchung an, und man stellte mir auch keinerlei Fragen.

Ruth
    Eine andere Abstammung
    W ir brachten meinen Vater in einem Pflegeheim unter. »Betreuungseinrichtung« nannte man so etwas nun offiziell, aber wir kannten die wahren Hintergründe, und obwohl mein Vater zusehends verwirrter war, verstand auch er, dass er die Farm für immer verließ.
    »Das verheißt nichts Gutes«, sagte er, als mein Schwager Chip vor dem Gebäude anhielt.
    »Es wird dir schon gefallen, Dad«, meinte Winnie.
    »Was sagst du dazu, Ed?«, fragte Chip, als wir zur Tür gingen. Er trug den Koffer meines Vaters, Winnie folgte mit einem kleinen Fernseher. »Hier gibt’s sogar einen Garten. Den Leutchen hier kannst du bestimmt noch was beibringen.«
    Mein Vater ging so gebückt, als müsse er sich unter einer niedrigen Tür hindurchducken, und schwieg. Er trug braune Cordhosen und die Schuhe, die er wahrscheinlich zuletzt beim Begräbnis meiner Mutter angezogen hatte – oder bei der mutigen Tour im selben Jahr zu Val Dickerson. Seine Arbeitsstiefel hatten wir nicht mitgenommen; hier würde er sie nicht mehr brauchen. Und als wir den kahlen Flur entlanggingen, fiel mir auf, dass alle anderen Heimbewohner Pantoffeln trugen.
    Das Zimmer war so groß wie eine Pferdebox und mit einem Einzelbett, einem Stuhl, einem Nachttisch und einer Kommode ausgestattet. Ich hatte ein paar Bilder für die Wände mitgebracht, doch als ich sie aufhängen wollte, schüttelte mein Vater den Kopf. Er saß kerzengerade auf dem Stuhl am Bett – der wohl für Besucher vorgesehen war – und betrachtete durchs Fenster den Himmel.
    »Sieht nach Regen aus«, sagte er.
    An jenem Abend setzte ich mich auf unsere Veranda und blickte über die Felder. Die dürren Maisstauden waren geschnitten, die Erde umgepflügt worden. Nur die Winterkürbisse lagen noch auf dem Feld, auf dem an diesem Wochenende mit dem Vogelscheuchen-Event das Erntejahr auf der Plank-Farm beendet werden würde.
    Die Sonne ging jetzt schon früh unter, und die Dämmerung setzte ein. Am Fuße des Abhangs sah ich Licht in der Küche meiner Schwester Naomi; sie und ihr Mann bereiteten sich wahrscheinlich ihre Fertigmahlzeit zu, die sie dann vor dem Fernseher essen würden. Sie nahmen nicht einmal im Sommer frisches Obst und Gemüse zu sich, und es gab auch niemanden mehr, der einkochte.
    So sah unsere Familie jetzt aus – es gab kaum noch etwas, das uns verband. Ich war Mitte fünfzig und hatte mehr graue als blonde Haare. Meine Tochter Elizabeth studierte in Seattle Jura und würde gewiss nie mehr hier leben. Douglas war inzwischen dreizehn und wohnte zwar noch bei mir, konnte aber den Tag kaum erwarten, an dem er als Pitcher bei den Red Sox einsteigen würde. Und selbst wenn er dieses Ziel nicht erreichen konnte, würde ihn gewiss nichts mehr lange hier halten.
    Da es keinen männlichen Erben gab, verwaltete Victor Patucci die Farm im Alleingang; ich betrieb allerdings nach wie vor den Verkaufsstand.
    Meine vier Schwestern und die beiden verbliebenen Ehemänner wohnten noch auf den Teilen des Farmgeländes, die unser Vater uns in den Achtzigern übergeben hatte. Die Farm zu erhalten wurde immer schwieriger. Wir hatten nur zwei Optionen, und bei beiden würden wir das Anwesen verlieren, das sich dreihundertvierzig Jahre im Besitz der Planks befunden hatte: die Meadow Wood Corporation oder der gute alte Victor Patucci.
    Einige der Enkel waren sentimental genug, für die Patucci-Lösung zu stimmen, weil sie das Anwesen als Farm bewahrt sehen wollten. (Mein Neffe Ben gab sich sogar der Illusion hin, dies sei besonders umweltfreundlich, und ich ließ ihn in dem Glauben.)
    Meine Schwestern dagegen votierten für den lukrativeren Verkauf an die Grundstücksentwickler. Dass ausgerechnet ich mich bislang als Einzige dem letzten Schritt verweigerte, war an sich widersinnig. Denn wenn es in meinem Leben eine Leidenschaft gegeben hatte, dann für die Kunst und nicht für die Landwirtschaft; aber ich legte auch Wert auf die Erhaltung von Geschichte und fand, dass wir dieses Land bewahren sollten, für das wir nun – ob es uns gefiel oder nicht – Verantwortung trugen.
    Auch die Häuser von meinen Schwestern und mir würden in dem Verkauf an Victor Patucci inbegriffen

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