Das Leben Findet Heute Statt
Zeit. Aber nicht immer für dich. Nicht jederzeit.
Die Klosterzelle schützt den Bruder, die Klosterordnung und die Gemeinschaft davor, sich ständig die Zeit für das Gebet und die geistlichen Übungen aufs Neue erkämpfen zu müssen. Es sind Wachstumszonen, sie entlasten. Um diesen Schutz müssen wir uns nicht mehr kümmern. Die Struktur des Klosters, die Zellen und der Tagesplan sind die Freiräume, die uns helfen, wach für das Leben hier und heute zu sein.
Das ist alles andere als ein schrecklicher Zwang. Der findet ganz woanders statt. Das Einstudieren der Einheitssprache von Betriebssystemen und Software rauben ganzen Völkern Zeit (und dazu Nerven). Jedem winkt die Aussicht, ein kleiner Computerfachmann werden zu können. Wir werden für morgen fit gemacht. Und das heißt: heute sein Leben zu vergessen und für morgen Anpassung zu üben an die neue Sprache von Bits und Bytes. Am Ende wissen wir alle, was «Strg+C» bedeutet, aber keiner kann mehr mit dem Füller schreiben. Mit der eigenen Handschrift. In der persönlichen Zeit.
Draußen geht es weiter. Wir stehen uns vor Automaten die Beine in den Bauch bei dem Versuch, ihnen Fahrkarten zu entlocken. In dem Wahn, selbst und unabhängig suchen zu wollen, verbringen wir Stunden in Webshops und auf Reiseseiten des Internets und können uns dann doch zu nichts entschließen. Wir werden mit kleingedruckten Betriebsanleitungen und mitBedienelementen technischer Geräte konfrontiert, deren Sinn zu verstehen ein höheres Informatikstudium voraussetzt. Wir hängen in Warteschleifen und lassen uns zum hundertsten Mal erklären, dass unser Gespräch zur Sicherung der Servicequalität mitgeschnitten werden kann, ohne aber zu dem Gespräch selbst zu gelangen: «Bitte rufen Sie später wieder an», heißt es nur lapidar. Wir sitzen im Stau, weil uns die Bahnfahrt zu umständlich erschien. Wir kommen zu spät, weil wir die Anreise zu knapp kalkuliert haben, und regen uns auf, wenn die Bahn nicht schafft, was wir selbst nicht schaffen: sich an die Ordnung der Zeit zu halten.
Auch vor einem Kapuzinerkloster macht der fiebrige Zeitgeist nicht halt. Wir spüren noch deutlicher seine Macht. Er reißt uns fort. Seine Verheißung ist ganz irdisch: Wenn du erst mal einen Computer hast, dann kannst du deine Texte ja später noch mal gründlich bearbeiten. Im Klartext: Du brauchst in der aktuellen Zeit nicht ganz so aufmerksam zu sein. Aber auch: Beschäftige dich erst später richtig mit den Sachen. Oder: Wenn du ein Telefon mit Anrufbeantworter hast, bist du immer erreichbar. Auf den Punkt gebracht: Du brauchst nicht an Menschen zu denken, die heute wichtig für dich sind. Was eine solche Verheißung verschweigt: Später musst du deine Zeit erst einmal damit verbringen, die Maschine abzuhören und dann auch noch die Rückrufe zu tätigen.
Es hat mir gutgetan, mich nach einigen Jahren des Mitrennens umzustellen. Mir wurde plötzlich klar, dass sich Zeit nicht einsparen lässt. Man hat ja immer dieselbe Menge davon zur Verfügung. Wichtig ist, dass ich sie einteile. Wenn ich unterwegs bin, trage ich oft mein Ordensgewand. Es sei die kleinste Zelle, die wir Klosterbrüder haben, meint Franziskus. Es erinnert mich daran, dass nichts und niemand das Recht hat, mich aus derselbstgesuchten Ordnung herauszuholen. Ich bleibe Herr meiner Zeit. Ich mache mir das am besten an dieser kleinsten Zelle, die ich am Leib trage, bewusst. Wie oft werde ich angesprochen: «Ach, Bruder, hätten Sie einen Moment Zeit für mich?» Meine Antwort gebe ich sehr selbstbewusst: «Ich habe Zeit, und bevor mein nächster Termin in zehn Minuten beginnt, nehme ich mir gern drei Minuten Zeit für Sie.» Oder ich sage auch: «Nein, ich will mir jetzt keine Zeit für Sie nehmen. Mir ist es wichtiger, die verbleibende Zeit bis zum nächsten Termin in Ruhe zu verbringen.» Das hört natürlich niemand gern. Da fühlt sich der andere abgelehnt. Aber eigentlich gestehe ich nur ein: Ich bin nicht Gott. Ich kann nicht überall sein. Nur hier und jetzt. Mit dieser Zeit. In diesem Moment. Ganz genau jetzt. Ein neuer Schritt für mein Leben.
9. Die Klosterzelle II
«Am liebsten alles liegenlassen.» Oder: Arbeiten als Last mit Lust
Es gibt Tage, da schmeckt einem die Arbeit einfach nicht. In der Klosterzelle muss dann mit dem Teufel gekämpft werden. Das ist kein mit dem Schwanz wedelnder Teufel wie der, nach dem Martin Luther auf der Wartburg einst sein Tintenfass warf. Nein, viel subtiler kommt er daher und legt
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