Das Leben in 38 Tagen
uns die Aussicht und wir fühlten
uns sicher und geborgen, erschöpft und glücklich. Ganz deutlich spürte ich noch
dieses Gefühl, als ich aufwachte.
Ob
dieser Traum mit der letzten Herberge zu tun hatte? Begleitete mich mein Vater
vielleicht im Geist auf diesem Weg? Aber wo war meine Mutter oder meine
Stiefmutter in diesem Traum? Vielleicht lag es daran, dass mein Vater immer für
uns beide da war, während meine Mutter uns — aus welchen Gründen auch immer —
verlassen hatte...
Ich
saß noch eine ganze Weile im Gras und schaute mich um. Und auf einmal stellte
ich fest, dass man von hier aus den Pilgerweg etwas unterhalb von mir einsehen
konnte. Gerade sah ich den bekannten Cowboyhut in einiger Entfernung
vorbeimarschieren. Chris hatte wohl das Gleiche wie ich gedacht und auch
irgendwo im Gras gelegen. Es war aber auch zu schön, nach der langen eintönigen
Meseta mit viel Regen und der ebenso lang erscheinenden grauen Betonstraße den
warmen, weichen Waldboden genießen zu können.
Ich
sah auf die Uhr: 14.00 Uhr. Wie weit es wohl noch bis Astorga war? Sämtliches
Gefühl für die gelaufenen Kilometer schien auf einmal verschwunden. Ich wusste
nur, dass ich heute dreißig Kilometer laufen musste und dass ich dafür
erfahrungsgemäß viel Zeit brauchte. Also war es besser, weiterzugehen. Wer
weiß, wie schwierig der Weg noch sein würde! Entschlossen überließ ich der
Vernunft die Entscheidung und riss mich von meinem schönen Plätzchen los. Ich
zog meine Schuhe wieder an und nahm mein Gepäck auf. Der Wald hatte mir wieder
neue Kraft gegeben. Ab und zu überholte mich jemand, aber die Idylle blieb.
Nach
einiger Zeit und einem ziemlich steilen Anstieg gelangte ich auf eine große,
weite Fläche ohne Bäume. Scheinbar genau in der Mitte kreuzten sich nun zwei
Feldwege, an deren einem Ende ein Steinkreuz stand. Hatte ich nicht gerade von
einem solchen Steinkreuz geträumt? Was war das wieder für ein komischer Zufall?
Gespannt lief ich darauf zu und ein herrlicher Blick auf die Bischofsstadt
Astorga mit ihren Türmen und den schneebedeckten Bergen im Hintergrund belohnte
mich. Ob ich auf dem Weg neben der Landstraße auch so einen Blick gehabt hätte?
Wohl kaum. Neben dem Steinkreuz standen einige Sitzgruppen aus Stein und ich
traf hier auf eine größere Gruppe Radfahrer und mehrere andere Pilger, die
ebenfalls den Blick genossen.
Mein
Ziel für heute lag unübersehbar vor mir. Wie schön!
Ich
hatte gelesen, dass Astorga — eine alte römische Siedlung —-früher sehr viele
Hospitäler, bis zu 22 an der Zahl, gehabt haben soll. Hier blieben die Pilger
so lange, bis sie sich von den Strapazen des Weges so weit erholt hatten, dass sie den Aufstieg in die Berge wagen konnten. Das erklärt
auch die historische Bedeutung dieser heute nur 13.000 Einwohner zählenden
Stadt unweit von León. Wenn man sich vorstellt, unter welchen Bedingungen die
Menschen früher gepilgert sind, kann man verstehen, dass viele krank wurden
oder sogar starben. Bei diesen Gedanken empfand ich wieder besondere
Dankbarkeit, in der heutigen Zeit pilgern zu dürfen — mir fehlte es an nichts.
Astorga
lag auf einem Hügel und wirkte deshalb besonders markant. Neben den Türmen der
Kathedrale und des Bischofspalastes imponierte vor allem die riesige, gut
erhaltene Stadtmauer aus dem dritten Jahrhundert nach Christus. Sie soll damals
zum Schutz gegen die Germanen von den Römern erbaut worden sein. Man musste
noch einmal ganz schön steigen, um hinter diesen Mauern in die Stadt zu
gelangen, und endlich hatte ich auch das geschafft. Das zweite Mal über dreißig
Kilometer! Juhu!
Vor
einem Café auf einem großen, sonnendurchfluteten Platz ließ ich mich auf einen
Stuhl fallen. Erst mal Pause und dann sehen, wo die Herberge ist. „Hallo,
Conny!“, sagte plötzlich eine Stimme und auf einmal stand Anne vor mir. Sie
erzählte, dass sie im besten Hotel am Platze eingecheckt habe, weil ihr Mann
ihr das empfohlen hatte. Ist ja fast wie bei mir, dachte ich. Mein Mann will
auch immer nur das Beste für mich. Ich schwankte ein bisschen wegen der
Unterkunft, aber da eine Herberge hier seit kurzem von Deutschen geführt sein
sollte und sehr gelobt wurde, wollte ich diese gern testen.
Wir
setzten uns zusammen und unterhielten uns, bis erneut ein Bekannter auftauchte.
Achim!
„Ich
dachte, du bist schon längst viel weiter?“, fragte ich erstaunt. „Ach, bei mir
läuft es nicht so gut!“, sagte er, ohne sich näher über die Gründe zu
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