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Das Leben in 38 Tagen

Das Leben in 38 Tagen

Titel: Das Leben in 38 Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Scheidecker
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fünf Schüler einer neunten Klasse an einem Abend zusammen
über die Grenze geflüchtet sind. Am nächsten Tag kam die Polizei in die Schule
und verhörte einige Jugendliche. Auch die Lehrer und die Eltern wurden verhört.
Sie mussten schriftlich darlegen, dass sie von den Fluchtplänen ihrer Kinder
nichts gewusst hatten und dass sie ihre Kinder wieder zurückhaben wollten. Es
gab einen Heidenaufruhr, aber keines der Kinder ist vor der Wende wieder
zurückgekommen.
    Daneben
gab es auch Schüler, die nur wegen Fluchtverdacht die Schule und das
Sperrgebiet (das war die Fünf-Kilometer-Sperrzone zur Westgrenze, in der wir
lebten) verlassen mussten. Auch ein Junge aus meiner Klasse war dabei. Er lebte
dann ein Jahr in einem Kinderheim und schrieb mir immer Briefe von dort. Das
fand ich schon sehr schlimm, auch dass manche Kinder mit ihren Familien aus
ihren Häusern und einsamen Bauernhöfen vertrieben wurden, weil diese zu nahe an
der Grenze standen. Danach wurden die Häuser und ganze kleinere Orte dem
Erdboden gleich gemacht. Dies zeigte uns immer wieder, dass wir in einer
Diktatur lebten, in der die Freiheit aus der Einsicht in die Notwendigkeit
bestand... Einmal bin ich mit einer Schulfreundin diesen verlockenden Berg so
weit wie möglich hinauf bis zum Waldrand gelaufen. Hier gab es die schönsten
und dicksten Hagebutten, die wir für die Schule sammeln mussten. Auf einmal
kreisten uns unbemerkt zwei Grenzsoldaten ein und meldeten uns mit Sprechfunk
an ihre Dienststelle. Da bekamen wir es plötzlich mit der Angst zu tun und wir
waren froh, dass wir nach Feststellung unserer Personalien wieder nach Hause
gehen durften. So haben wir uns auch nie wieder so weit an den Berg und die Grenze herangewagt. Die Straße, die früher einmal über den Berg
in den Nachbarort geführt hatte und auch immer noch nach dem Nachbarort benannt
blieb, schien nun endgültig für uns neben dem letzten Haus unseres Ortes zu
Ende zu sein. Hinter dem Schlagbaum war unsere wirkliche Welt zu Ende. Danach
begann das Land der Träume und der Phantasie und unsere Gedanken vermochte zum
Glück auch in der DDR-Diktatur niemand zu lesen...
    Das
Leben in der Fünf-Kilometer-Sperrzone war schon ein besonderes Leben, denn
eigentlich lebten wir in einem eigenen Land im Land. Für uns existierte nämlich
nicht nur die befestigte Grenze nach Westen und Süden als Barriere, sondern wir
waren ja auch von der übrigen DDR durch Passkontrollen an der
Fünf-Kilometer-Grenze getrennt. Da wir als Kinder damit aufgewachsen sind,
kannten wir es nicht anders und es störte uns wohl weniger als die Erwachsenen,
immer den Personalausweis vorzuzeigen, ein Hausbuch für Besucher zu führen oder
für jeden Besuch von Bekannten und Verwandten erst einen Passierschein
beantragen zu müssen. Es hatte ja auch seine Vorteile, denn es gab so gut wie
keine Kriminalität bei uns. Sobald sich jemand strafbar gemacht hatte, wurde er
aus dem Sperrgebiet ausgewiesen. So kannten wir weder Fahrradschlösser noch
wurde die Haustür jemals abgeschlossen. Unverhoffte Besuche gab es nicht, denn
ohne Passierschein durfte niemand in unser „Sondergebiet“ hinein. Ich bin oft
als Kind allein im Wald unterwegs gewesen und weiß, dass ich niemals wirkliche
Angst hatte. So sehr die Erwachsenen dieses ständige „ Bewachtsein “
durch die Grenzsoldaten nervte, so sehr hat es uns Kindern auch ein Gefühl der
Sicherheit vermittelt. Insofern wirkte auch die ständige Ideologiebeeinflussung
durch die Schule.
    Die
Probleme kamen meist später, als man Freunde außerhalb der Sperrzone hatte, die
man nie einladen konnte. Noch schwieriger war es für die alten Leute wie meine
Oma, die niemals mehr nach dem Mauerfall ihre zwei jüngsten Söhne in ihrem
Elternhaus begrüßen durfte. Sie konnten sich nur außerhalb des Sperrgebietes
treffen und durften ihre nahe Heimat nicht wiedersehen, obwohl sie nie
geflüchtet, sondern legal vor 1950 ins Ruhrgebiet verzogen waren. Dies war auch
für meinen Vater schwer, denn er konnte seinen Brüdern nie zeigen, was er alles
an dem Elternhaus gebaut hatte und wie wir lebten. Er konnte ihnen nie
Gastfreundschaft im eigenen Haus anbieten, sondern musste fremde Menschen
außerhalb des Sperrgebietes bitten, ihnen Unterkunft zu gewähren, damit sie
sich überhaupt einmal sehen konnten!
    Und
dann sollte er als Lehrer noch den Schülern erzählen, wie gut der Sozialismus
doch war und dass alles nur zum Wohl des Volkes geschah. Was für ein
offensichtlicher Widerspruch,

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