Das Leben in 38 Tagen
hatten und auch Heidemarie sich wieder beruhigt hatte,
stiegen wir weiter steil bergauf. Der Weg bestand jetzt nur noch aus einem
schmalen Pfad, der sich zwischen teilweise mit Moos und Farnkraut bewachsenen
großen Steinen und alten, knorrigen Bäumen, die einen grünen Tunnel über
unseren Köpfen bildeten, nach oben wand .
Später
verströmten wieder blühender Ginster und Heidekraut einen angenehmen Duft, die
Bäume wurden weniger, aber dafür der Blick in die tief eingeschnittenen Täler
freier. Die Hänge waren jetzt teilweise so steil, dass ich mir keinen Traktor
auf den saftig grünen Wiesen hätte vorstellen können. Dafür sah man weidende
Kühe und Pferde mit bimmelnden Glöckchen. Die Landschaft erinnerte mich nun an
die Alpen und war Bergidylle pur.
Gegen
Mittag hatten wir den Aufstieg endlich geschafft! Unsere Wasservorräte waren mittlerweile
aufgebraucht und alles schmerzte, selbst das Atmen! In dem ärmlichen, nach Mist
und Stall riechenden Dorf kurz unterhalb des Gipfels bettelte Heidemarie um
Wasser. „ Oiga ! Oiga !“
(Hallo! Hallo!), rief sie in die alten offenen Türen der Viehställe und Häuser,
aber kein Mensch war zu sehen oder zu hören. Nur das Vieh brüllte als Antwort.
Wahrscheinlich machten alle einheimischen Bauern Siesta. Ich war ganz erstaunt,
wie ausdauernd Heidemarie nach jemandem suchte. Doch schließlich gab sie doch
auf und hielt ihre Wasserflasche einfach unter eine Viehtränke, was ich mir
nicht traute, weil alles so schmutzig aussah.
Kurz
danach tauchte endlich das Dorf O Cebreiro direkt auf dem Bergrücken auf und
die uralten Häuser erschienen uns wie eine Erlösung. Geschafft! — Hier begann
nun der letzte Abschnitt unserer Reise, denn gerade hatten wir die Grenze zu
Galicien überschritten.
Galicien,
das alte keltische Land mit seinen Bergen, ist bekannt für sein regenreiches
Klima, welches eine üppige grüne Vegetation ähnlich der Irlands hervorbringt.
Wir fühlten uns beide so glücklich, den Gipfel und Galicien erreicht zu haben,
dass wir uns erst einmal auf eine Bank setzten, um den Augenblick zu genießen
und zu verschnaufen. Der herrliche Rundumblick belohnte uns reichlich für alle
Anstrengung. So mussten sich Bergsteiger auf einem Gipfel fühlen. Alle Lasten
fallen auf einmal ab. Dies schien genau der Platz zu sein für Goethes Ausspruch
„Verweile doch, du bist so schön!“ Ob man das genauso intensiv empfinden
konnte, wenn man mit dem Bus oder dem Auto hier oben angekommen war? Ich glaube
nicht…
O
Cebreiro ist ein ganz besonderes Dorf, denn hier gibt es noch die nach uralter
keltischer Tradition gebauten strohgedeckten Rundhütten ohne Fenster, die so
genannten Pallozas . Auch die übrigen niedrigen Häuser
sind ebenso wie die Kirche und die Straße aus Schieferbruchsteinen gebaut. Ein
besonderes Flair liegt über dem Ort, selbst wenn Touristen das Dorf
mittlerweile überschwemmt haben. Ein Hauch von Raum- und Zeitlosigkeit. Vielleicht
liegt es auch an dem starken Wind, der hier oben bläst und die Wolken so
schnell treiben lässt! Und an dem Himmel, der hier besonders nah scheint! Und
an den sichtbaren Spuren der Vergangenheit!
Ja,
da war es wieder, dieses besondere Gefühl; auf einem ersehnten Berg zu stehen,
mit dem klaren Wind und der endlos erscheinenden Weite die Freiheit zu spüren
und die unbändige Freude, aus eigener Kraft etwas Schwieriges geschafft zu
haben. Man glaubt, nun alle Ängste und Zweifel zurückgelassen zu haben und allen
Strapazen gewachsen zu sein. Mit diesem Weg sind wir über uns hinausgewachsen,
haben alte Schwächen bezwungen und neue Kraft gesammelt. Wie Hape treffend sagte: „Dieser Weg nimmt dir alle Kraft und
gibt sie dir dreifach zurück!“ Auf dem O Cebreiro war so ein Punkt für mich, wo
ich diese Aussage als tief erlebte Wahrheit empfand. Wir gingen langsam, fast
ehrfürchtig durch den Ort, wobei wir immer wieder den herrlichen Rundumblick
genossen. In den niedrigen Steinhäusern lockte uns ein Museum für galicische Volkskunst
sowie mehrere kleine urtümliche Restaurants und Herbergen.
Etwas
ganz Besonderes stellte die kleine Kirche in ihrer anrührenden Schlichtheit aus
dem neunten Jahrhundert dar. Innen und außen fast ohne Schmuck, mit meterdicken
glatten Steinwänden und winzigen Fenstern, erinnerte sie mich an die Kirche von Eunate , wo ich im angrenzenden Diensthaus übernachten
durfte. So wie Eunate völlig frei zwischen weiten
Feldern lag, so befand sich die Kirche von O Cebreiro frei auf
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