Das Leben in 38 Tagen
in dem meine Eltern doch beide ständig gefangen
waren! Vielleicht hat diese jahrelange Verleugnung der eigenen Identität auch
einen Teil dazu beigetragen, dass beide an Krebs erkrankt sind...
Aber
zum Glück hat uns die Geschichte einmal mehr bewiesen, dass sich auch scheinbar
für immer feststehende Dinge irgendwann verändern können, und das sogar ohne
Gewalt! Nach der Grenzöffnung war es für mich eines der tollsten Erlebnisse,
auf diesem und anderen ehemals für uns verbotenen Bergen zu stehen und den nun
freien Blick nach allen Himmelsrichtungen zu genießen. Endlich konnten wir mit
unseren Gedanken und Träumen mithalten und genauso frei wie diese überall
hingehen. Die Schlagbäume standen weit offen und auf einmal waren die Straßen
endlos. Ich weiß nicht, wie oft wir anfangs auf die Wasserkuppe, den höchsten
und geschichtsträchtigsten Berg der Rhön, gefahren sind, weil wir uns einfach nicht
satt sehen konnten...
Ich
dachte daran, was es doch für ein besonderes Privileg unserer Generation war,
keinen Krieg erlebt und doch zwei völlig verschiedene Gesellschaftsordnungen
kennen gelernt zu haben. Niemals hätte ich es früher für möglich gehalten, dass
es wieder einen einzigen deutschen Staat geben würde, und schon gar nicht ohne
Gewalt, dass einmal friedlich „zusammenwächst, was zusammengehört“. Dieser
Ausspruch von Willy Brandt steht nun auf einer Gedenktafel, die sich genau dort
am westlichen Horizont befindet, wo früher amerikanische Grenzsoldaten saßen.
Genau dort, von wo aus nun jedermann in alle Richtungen blicken kann und auch
ich und meine Kinder sehen können, wie es „hinter dem Berg“ aussieht. Mein Mann
hatte den Blick ja schon als Grenzsoldat „genießen“ können. Erfüllt von
Dankbarkeit, in dieser Zeit zu leben, die mir alle Möglichkeiten bot, jeden Weg
zu gehen und jeden Berg zu ersteigen, den ich wollte, fiel mir selbst dieser
steile Weg nicht übermäßig schwer. Irgendwie war ich heute gut drauf, auch wenn
mir der Schweiß den Rücken hinunterlief und der Atem manchmal knapp wurde . Anstrengung gehört nun einmal dazu, wenn man einen
Berg erklimmen will...
Doch
heute hatten uns unsere Gedanken auf einmal so weit vom Laufen abgelenkt, dass
wir tatsächlich einen Abzweig verpasst haben mussten. In der Gegenwart
angekommen fanden wir uns plötzlich auf einer kleinen Asphaltstraße wieder, die
gerade frisch geteert wurde. Heidemarie fragte den Bauarbeiter mit seiner
Teermaschine, wie wir denn nun weiter nach oben kommen sollten. Dieser
antwortete, dass wir doch am Rand entlanglaufen könnten, was wir dann auch in
den tiefen Brennesseln taten, bis es keinen Rand und
keine Brennesseln mehr gab, sondern nur noch frischen
Teer. Was nun? Sollten wir den ganzen Weg wieder zurückgehen und dann den
Abzweig suchen? Heidemarie schimpfte wie ein Rohrspatz auf den Straßenarbeiter.
So kannte ich sie gar nicht. Der Arbeiter in sicherer Entfernung tat, als ginge
ihn das nichts an.
Wir
entschlossen uns, ungeachtet des frischen Teers die Straße zu überqueren, und
hatten natürlich danach eine dicke schwarze Schicht an den Schuhen. Als wir
versuchten, diese irgendwie an den Steinen abzukratzen, kam uns eine neue
Baumaschine mit mehreren Straßenarbeitern entgegen, die Split auf dem Teer
verteilten. Hätte uns der Bauarbeiter unten nicht sagen können, dass wir nur
etwas warten sollten, bis die Splitmaschine kommen
würde? Schließlich hatte Heidemarie ja in gut verständlichem Spanisch mit ihm
geredet. Heidemarie war außer sich. Wir zeigten den Bauarbeitern unsere Schuhe
und sie erwiderten, dass man sie doch mit Benzin reinigen könnte. Je mehr sich
Heidemarie aufregte, desto lustiger fanden es die Straßenarbeiter.
Wo
sollten wir hier oben in dem kleinen Gebirgsdorf Benzin herbekommen?
Schließlich gab es Heidemarie auf, zu diskutieren, und wir liefen mit leidlich
sauberen Schuhen weiter. Allerdings hatte uns diese Teerstraße den schönen Ort
La Faba vermiest und so machten wir erst hinter dem Dorf auf einer blühenden
Bergwiese Rast. Aber von hier aus hatte man wenigstens einen herrlichen Blick
auf die üppig grünen Berge und Täler. So stellte ich mir Irland vor. Wir saßen
im Schatten eines Baumes und genossen die wunderbare Ruhe und scheinbare
Einsamkeit. Nur ab und zu kamen einzelne Pilger vorbei, die uns meist gar nicht
bemerkten. Obwohl wir nun schon auf über 900 Metern angelangt waren, lagen
heute noch einmal 400 Höhenmeter vor uns.
Nachdem
wir uns etwas erholt
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