Das Leben in 38 Tagen
deshalb nur
einen Teil der Strecke würde gehen können.
Den
meisten fiel es schwer, über ihre Motivation zu reden, aber man spürte, dass alle
eine bestimmte Sehnsucht einte, nämlich über den Jakobsweg mehr Klarheit in ihr
Leben zu bekommen. Man fühlte sich wie in einer großen Familie, jeder mit
seinen eigenen Problemen und seinem eigenen Lebensweg, aber doch vereint mit
einem gemeinsamen Ziel.
Während
des Essens erschien Jean, ein Franzose, der mit Eva eine Zeit lang zusammen
hier wohnte. In dem Gästebuch hatte ich nur Lobesworte über Jeans Herzlichkeit
gelesen und er brachte tatsächlich mit seinem Charme noch mehr Freude in die
nette Runde. Aus Mandarinenschalen schnitzte er kleine gelbe Pfeile, die jeder
dann auf seinem Nachtisch, einer Joghurtspeise mit Mandarinen, serviert bekam.
Wieder
einmal war ich erstaunt, mit wie viel Liebe und Hingabe Menschen wie Eva und
Jean nur für Spenden hier ihre Arbeit verrichteten. Der Camino musste schon
etwas Besonderes sein, um so viele Menschen aus der ganzen Welt
zusammenzuführen, und ich war froh, mittendrin zu sein.
Und
es kam noch besser! Nachdem es draußen dunkel geworden war und wir unseren
Rotwein ausgetrunken hatten, führte uns Eva noch einmal zur Kirche gegenüber.
Dort gab sie jedem von uns ein brennendes Teelicht in die Hand und damit
betraten wir die stockdunkle Kirche. Ein beeindruckendes Gefühl, nur mit
unseren Kerzen den großen Raum zu erhellen. Wie das Licht, das in unseren
Herzen brannte! Nach ein paar Minuten der Stille fing Eva an, für uns zu beten,
und jeder konnte laut etwas sagen oder auch nicht. Sie erwähnte jeden von uns
mit Namen und eine große Feierlichkeit überkam uns. Eva spielte auf der Flöte,
sang ein Lied und wir fassten uns an den Händen und umarmten uns. Wieder einmal
war ich sicher, genau in diesem Moment an der richtigen Stelle zu sein. Dies
war also heute mein Sonntagsgottesdienst und ich fand ihn intensiver und
ergreifender, als er je in einer großen prunkvollen Kirche hätte sein können.
Auf
meiner Matratze konnte ich in dieser Nacht lange nicht einschlafen. Ein
Gewitter ging nieder, es war kalt hinter diesen dicken Mauern und die Männer
schnarchten wieder, aber das war es nicht, was mich nicht schlafen ließ. Es
waren die intensiven Erlebnisse des vergangenen Tages. So viele Glücksmomente
wie an diesem Tag hatte ich wohl schon lange nicht mehr erlebt. Und ich befand
mich erst am Anfang des Weges! Der nächste Morgen brachte noch eine kleine
Überraschung für uns. Auf unseren Tellern lag für jeden ein kleiner Stein, auf
dessen Vorderseite ein gelber Pfeil gemalt und auf dessen Rückseite „ Eunate “ geschrieben war. Dies empfanden wir als
wunderschöne Erinnerung an eine unvergessliche Nacht in einer besonderen
Gemeinschaft.
Wir
verabschiedeten uns herzlich und ließen auch einige Euro in der „ Donativo “-Büchse verschwinden, ehe wir durch die frisch
gewaschenen Felder Richtung Santiago weiterwanderten. Werner hatte sich
entschlossen, an meiner Seite zu bleiben, da ich ihm so viel Glück gebracht
hätte, wie er sagte. Wir beide waren übrigens die einzigen Pilger in Eunate am gestrigen Tag gewesen, die den Navarrischen Weg gegangen waren, das heißt von
St.-Jean-Pied-de-Port über Roncesvalles. Die anderen vier Pilger waren über den Aragonesischen Weg, der über Jaca führt und noch etwa
fünfzig Kilometer länger ist, gekommen. Diese beiden Pilgerwege treffen sich in
Obanos, dem nächsten Ort unserer Reise.
Auf
dem großen Hauptplatz in Obanos findet alle zwei Jahre das einzige
mittelalterliche Singspiel in Spanien statt mit etwa 800 Mitwirkenden, die zum
größten Teil von Einwohnern des Ortes gestellt werden und bis zu 6000 Zuschauer
anziehen. Als wir am frühen Vormittag hier vorbeikamen, wirkte das kleine alte
Dorf leer und unscheinbar, und doch vermeinte man hier wie überall in diesen
mittelalterlichen Orten einen Hauch der Geschichte zu verspüren, den die alte
Pilgerstraße verströmte. Wie mein Reiseführer erzählte, soll vor ein paar
Jahrhunderten Wilhelm, der Herzog von Aquitanien, seine Schwester Felicia im
Zorn erstochen haben, weil sie von der Pilgerreise nach Santiago nicht mehr an
den Fürstenhof zurückkehren, sondern ihr Leben den Armen widmen wollte.
Entsetzt über seine eigene Tat pilgerte er später ebenfalls nach Santiago, um
danach nun selbst ein Leben als Büßer in der Nähe von Obanos zu führen, wo er
dann den Armen half.
So
gibt es viele Geschichten über diesen
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