Das Leben in 38 Tagen
verschwunden, nur einmal überquerten wir einen
kleinen Bach, sonst war alles kahl. Mitten in den Feldern aber konnte man in
einiger Entfernung eine Ansammlung von Bäumen sehen und dazwischen ein graues
Gebäude, das aussah wie eine Kirche. Wir liefen darauf zu und innerlich bereute
ich meinen Entschluss. Was konnte es in dieser einsamen Kirche schon
Sehenswertes geben und wo sollte da eine Übernachtungsmöglichkeit sein? Meine
Füße schmerzten heute besonders und einen Sonnenbrand hatte ich mir auch
geholt. Warum war ich nicht in Muruzabal geblieben?
Die
Kirche hatte etwas Besonderes, das sah man beim Näherkommen. Nicht nur die
achteckige Bauform, auch die klosterartigen, gut erhaltenen Umgänge, die zwei
völlig verschiedenen Türme und die Lage außerhalb jeder Ortschaft waren
außergewöhnlich. Niemand weiß, ob sie von Templerrittern erbaut wurde, ob sie
als Begräbniskultstätte oder als Friedhofskirche diente. Sagenumwoben zieht sie
die Menschen seit Jahrhunderten in ihren Bann.
Im
Inneren der Kirche beeindruckte mich ihre Schlichtheit. Kein Prunk, kein Protz,
nur eine Marienstatue, glatte Natursteinwände, Blumen, Kerzen und kühle Stille.
Plötzlich wusste ich, warum ich hierher gegangen war. Ich fühlte keine Sorge
mehr um eine Übernachtung oder um eventuelle Schwierigkeiten auf dem weiteren
Weg. Ruhe und Gelassenheit erfassten mich.
Wir
traten aus der Kirche heraus und sahen vor dem einzigen kleinen Gebäude, das
noch hier stand, eine schmale Frau etwa in meinem Alter und mit einem langen
blonden Zopf die Wäsche aufhängen.
Ich
ging auf sie zu und fragte mit meinen paar Brocken Spanisch: „ Habitación libre , dos personas ?“ Sie sah mich mit prüfendem Blick an und sprach:
„Seid ihr Deutsche?“ Ich war baff. Sie war Schweizerin und stellte sich als Eva
vor. „Das ist eigentlich keine Herberge. Wir arbeiten hier nur zeitweise für
eine Bruderschaft und betreuen die Kirche!“ Auf mein enttäuschtes Gesicht und
den Hinweis auf meine schwindenden Kräfte für heute lächelte sie und sagte:
„Wir können Pilger übernachten lassen, wenn wir es wollen. Aber es gibt hier
nur Matratzen in einem kalten Raum.“ Mein Herz machte einen Luftsprung und
Werner gratulierte mir zu meiner Idee, nach Eunate zu
gehen.
Das,
was an diesem Abend noch passierte, werde ich mein
ganzes Leben nicht vergessen. Mit uns hatten noch ein Franzose, zwei
Brasilianer und später ein junger Spanier den Weg hierher gefunden. Zusammen
bereiteten wir das Abendbrot zu: Suppe, Kartoffeln, Gemüse und Salat. Eva bereitete
mir sogar ein extra Dressing mit Sojaöl, da ich ihr von meinen Problemen mit
Olivenöl erzählt hatte. Gemeinsam deckten wir den Tisch neben einem großen
alten Kamin in der Wohnküche und setzten uns alle zusammen. Mit großer
Herzlichkeit begrüßte sie uns noch einmal und sprach ein kurzes Gebet. Während
des Essens sollte sich jeder vorstellen und kurz erzählen, warum er den Camino
ging.
Wie
sich dabei herausstellte, waren die beiden Brasilianer kein Ehepaar, sondern
die Frau etwa in meinem Alter war die Freundin der Ehefrau. Die musste ja
wirklich ein Riesenvertrauen zu ihrem Mann haben!
Der
Brasilianer erzählte, dass er den Weg schon das zweite Mal gehen würde, und
zwar aus rein religiösen Gründen. Seine Frau konnte wegen eines Gehirntumors
die Strapazen des Weges zwar nicht mehr auf sich nehmen, aber sie arbeitete
trotzdem noch als Ärztin in einem Krankenhaus in São Paulo. Deshalb erschien es
ihm auch unverständlich, warum ich freiwillig meine Arbeit in einer Arztpraxis
aufgegeben hatte, als ich nach dem Krebstod meiner Freundin und meiner Eltern
nicht mehr mit Krebskranken umgehen konnte. Er fragte mich tatsächlich, ob ich
damit nicht vor meinen Problemen davonlaufen würde. Seiner Meinung nach müssten
wir unsere Aufgabe an dem Platz erfüllen, an den Gott uns hingestellt hat,
während ich die Auffassung vertrat, dass man immer eine Wahl hat. Es entstand
eine richtig interessante Diskussion, in der Eva als Übersetzerin fungierte.
Der
junge Spanier hieß Antonio. Er war so alt wie Martin, hatte keine Freundin und
lebte als Letzter seiner Geschwister noch im Hause seiner Eltern in Zaragoza,
wo er ständig gebraucht wurde und kaum Zeit für sich selbst fand. Der Camino
sollte ihm helfen, über seine berufliche und private Zukunft nachzudenken.
Wir
waren beeindruckt von der Ernsthaftigkeit des jungen Mannes, der damit
rechnete, dass seine Eltern ihn unterwegs brauchen würden und er
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