Das Leben in 38 Tagen
Sonne. Von der Außenanlage hatte man einen herrlichen
Blick auf Estella und ich ließ die Stadt und die liebliche Landschaft noch
etwas auf mich wirken, ehe ich wieder zu meinem Begleiter ging. Der lag immer
noch auf der Bank, als ein Schäfer mit einer riesigen Schafherde mit bimmelnden
Glöckchen und zwei bellenden Hunden durch das Tor kam. Werner rieb sich
verdutzt die Augen und wir beobachteten, wie der junge Schäfer mit seinen
Hunden die Tiere um das Kloster herum auf eine dahinter liegende Wiese trieb.
„Na,
Werner, wollen wir weitergehen oder willst du noch etwas schlafen?“, fragte ich
meinen Pilgerbruder scheinheilig. „Nein, ich habe doch gar nicht geschlafen,
wir gehen sofort los“, entgegnete er noch etwas müde. Und schon trieb es uns
weiter mit unseren schweren Rucksäcken und schmerzenden Füßen. Hügelauf und
hügelab, durch kleine Nadelwälder und vorbei an Feldern, die eine gute Ernte
erahnen ließen, über grüne Wiesen und an einzelnen, teilweise verfallenen alten
Gehöften vorbei. Ab und zu mischten sich nun auch Weinberge in die Landschaft,
denn das fruchtbare Rioja-Land war nicht mehr weit. Von einem Hügel konnte man
in der Ferne schon die Berge von Logroño sehen.
7.
Eine holländische Herberge und Los Arcos
Meistens
aber sah ich heute nur noch Werners stramme Waden vor mir, denn seit unserer
Mittagspause hatte er einen Zahn zugelegt und ich hatte Mühe, ihm zu folgen.
Die ersten zehn Kilometer an jedem neuen Tag konnte ich meist ohne Probleme
laufen, danach begannen meine Füße und Schultern zu schmerzen und jeder
Kilometer fiel mir schwerer. Bei Werner schien es genau umgekehrt zu sein und
das bestärkte mich in meinem Entschluss, mich von ihm zu trennen.
Nach
einem schattenlosen Anstieg musste ich vor einem kleinen Dorf erst mal wieder
eine Pause einlegen, während Werner bis zur nächsten Bar weiterlaufen wollte.
Mir war das egal und ich legte mich auf eine Steinbank unter einen Baum und
ließ ihn ziehen. Er wollte in der nächsten Bar auf mich warten, aber ich ließ
mir Zeit und genoss den Schatten und die Ruhe in der Siestazeit .
Die
Stille wurde nur ab und zu von einem Hundegebell, einem Hahnenkrähen oder den
gleichmäßigen Schritten eines Pilgers unterbrochen, sonst schienen Mensch und
Tier zu schlafen. Mit geschlossenen Augen, den Kopf auf meiner Gürteltasche,
die nackten Füße in der Luft, ließ ich den Weg in Gedanken noch einmal
vorüberziehen, ich dachte daran, wie einfach es doch war, immer nur den gelben
Pfeilen zu folgen und immer ein Ziel vor Augen zu haben. Selbst wenn man sich
einmal verlaufen würde, weil man einen Pfeil übersehen haben sollte, wäre es
kein Problem, nach dem Weg zu fragen. Den Camino kannte hier jedes Kind. Wie
gut fühlt man sich doch, wenn man weiß, dass man das Richtige tut, dass man auf
dem richtigen Weg ist und alles noch möglich erscheint! Im Gegensatz dazu steht
das beunruhigende Gefühl, nicht zu wissen, was man tun soll, welchen Weg man
ergreifen soll, welche Entscheidung die richtige ist...
Weil
ich auf dem Camino mit jedem Tag mehr das sichere Gefühl hatte, auf dem
richtigen Weg zu sein, gefiel mir das Pilgerleben nun immer besser. Langsam
bekam ich Routine im Rucksackpacken, seit heute Morgen auch im
Schlafsackpacken, sowie in der Fußpflege und mit der Einteilung meiner Kräfte.
Irgendwann würde ich auch noch genau ausrechnen, wie viele Kilometer ich pro
Tag laufen musste, um bis zum 18. Mai in Santiago zu sein. Die erfahrenen
Pilger hatten erzählt, dass ab einem bestimmten Punkt das Laufen ganz leicht
gehen würde und man gar nicht mehr damit aufhören möchte. Davon war ich
allerdings noch ein ganzes Stück entfernt, denn auch heute hatte es der Weg mit
einigen Steigungen ganz schön in sich und ich hoffte darauf, dass bald geradere
Strecken kommen würden.
Der
nächste Ort lag fast 700 Meter hoch und man sah ihn schon von weitem an einem
Berghang liegen, dessen nacktes Haupt von einer alten Burg gekrönt wurde. Man
spürte hier eigentlich auf Schritt und Tritt die geschichtsträchtige
Vergangenheit. Es hätte mich nicht verwundert, wenn mir hinter der nächsten
Biegung ein paar Templer oder Kreuzritter auf ihren Pferden entgegengekommen
wären. Die legendären Tempelritter hatten es sich ja im frühen Mittelalter zur
Aufgabe gemacht, die zunehmende Schar der Pilger vor Raub und Anschlägen zu
schützen. Vielleicht war die Burgruine auf dem Berg sogar eine alte
Templerburg, so wie einige Burgen und Kirchen
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