Das Leben in 38 Tagen
den
traurigen Antonio, dem an jenem Abend sogar die Hände beim Wassereingießen
gezittert hatten, endlich glücklich zu sehen, und so begann auch dieser Tag
wieder mit einem Glücksgefühl.
Und
von Glücksgefühlen kann man bekanntlich ja nie genug bekommen, zumal uns heute
bis hinein in die große Stadt León der wohl hässlichste Abschnitt des ganzen
Camino bevorstand.
Wenn
man sich wirklich entschließen sollte, einen Teil des Weges zu fahren, dann
wurde im Pilgerführer zu diesem Abschnitt geraten. Aber mich hatte jetzt der
Ehrgeiz gepackt; nun war ich schon fast 500 Kilometer gelaufen, da wollte ich
die restlichen 300 und ein bisschen auch noch schaffen! Ultreja !
Die
ersten zehn Kilometer kamen wir gut voran und ich fand die Landschaft gar nicht
so schlecht. Wir überquerten zweimal einen Fluss, die Sonne schien und der Weg
führte uns in einigem Abstand zur Hauptstraße zwischen grünen, mit gelbem
Löwenzahn getupften Wiesen entlang. Auf einer Anhöhe setzten wir uns inmitten
von blühendem Heidekraut und Ginster in eine Art weichen Moosteppich. Nachdem
wir uns an unseren Vorräten gestärkt hatten, legten wir uns mit dem Kopf auf
den Rucksack zurück und sahen in den wunderbar blauen Himmel. Ringsum duftete
es nach Kräutern und den Lärm der etwas unterhalb von uns vorbeiführenden
Straße hörte man nur als sanftes Rauschen. Die Grillen zirpten und mir wurde
wieder einmal bewusst, dass es genau das war, was ich suchte. Zeit und Ruhe.
Natur und Sonne. Abstand von allen Problemen und nur sich selbst verpflichtet
sein...
Mittlerweile
hatten noch mehr Pilger unser schönes Plätzchen entdeckt und setzten sich zu
uns. Eine junge bayrische Frau war mit ihrer fast 70-jährigen Mutter unterwegs.
Ich beobachtete, wie die Tochter liebevoll der alten Frau die schweren
Wanderschuhe auszog und dann begann, ihr die Füße zu massieren. „Ja“, sagte
sie, „ich habe die Mutter zum Pilgern überredet und nun muss ich ihr auch helfen,
wenn sie Probleme hat!“
„Nie
im Leben wäre ich von mir aus diesen Weg gelaufen“, erzählte die alte Frau,
„ich kann doch nicht gut laufen, aber meine Tochter wollte das unbedingt!“
„Und“, fragte ich, „haben Sie es bereut?“ „Nein, das nicht, solange meine
Tochter dabei ist, geht das schon, wir müssen halt langsam laufen und können
nicht so weite Strecken gehen. Wir sind auch schon in Bayern gepilgert, aber
das hier ist doch etwas anderes. Deshalb haben wir uns auch nur ein Teilstück
des Camino vorgenommen. Wir sind erst in Burgos gestartet und haben uns dort
die Kathedrale angesehen. Jetzt wollen wir noch bis zur Kathedrale von León und
vielleicht schaffen wir es sogar noch bis zum Bischofspalast in Astorga. Mal
sehen, wir lassen uns Zeit!“
Auf
einmal fiel mir ein, dass das genau diejenige alte Frau war, deren Füße der
rührige Hospitalero Wolf Schneider gestern gerade in seinem Büro versorgt
hatte, als wir ankamen. Ich fand es bewundernswert, wie lieb sich die Tochter
um ihre Mutter kümmerte. Die beiden kannten sich übrigens sehr gut in der Natur
aus, denn sie erklärten uns auch, was hier so schön duftete. Es waren Thymian
und Rosmarin.
„Und
den Weg bis Santiago gehen wir im nächsten Jahr, stimmt’s, Mutter?“, sprach die
Tochter, worauf die Mutter diplomatisch antwortete: „So Gott will, mein Kind!“
Nach
dieser schönen Rast hatten wir Kraft getankt für die nächsten
Herausforderungen. Der gelbe Pfeil führte uns nun langsam in Richtung
Schnellstraße; es ging etwas bergab, dann wieder bergauf, während der Verkehr immer
dichter wurde. Als der Pilgerweg nun kilometerweit direkt neben der viel
befahrenen Straße entlang führte, wurde uns klar, warum diese Strecke so einen
schlechten Ruf hatte. Nach der Stille und Einsamkeit der Meseta empfanden wir das hier als besonders krassen Gegensatz. Warum musste der
Camino auch gerade hier entlangführen? Die LKWs und Schwerlasttransporter
donnerten mit einer solchen Geschwindigkeit vorbei, dass uns der dabei
entstehende Luftzug jedes Mal fast davon wehte.
Den
Hut konnten wir einstecken, sonst wäre er davongeflogen. An Unterhaltung war
nicht zu denken. Wir konnten nur zusehen, dass wir so schnell wie möglich
vorwärtskamen, um diesen Wegabschnitt schnellstmöglich hinter uns zu bringen.
So
liefen wir mit gesenkten Köpfen und schnellen Schritten immer weiter, bis wir
endlich die Vororte von León erreichten. Aber auch hier führte der Weg weiter
an der Hauptverkehrsstraße entlang. Ein
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