Das Leben in 38 Tagen
Überqueren derselben würde hier wohl
ein größeres Problem darstellen, dachte ich. Immer weiter liefen wir geradeaus
und trotzten Lärm, Staub und Verkehr, bis wir uns auf einmal mitten in den
Straßen der großen Stadt wiederfanden.
León
hat etwa 145 000 Einwohner und ist die Hauptstadt der großen Provinz
Kastilien-León. Der Name leitet sich nicht etwa von Löwe ab, sondern vom
lateinischen Wort legio , weil die römischen Legionäre
etwa 70 nach Christus an dieser Stelle ein Truppenlager errichtet hatten. Die
Geschichte Leóns ist eng mit der Geschichte des Pilgerweges nach Santiago
verknüpft; so fällt ihre Blütezeit in die gleiche Zeitepoche wie die des
Camino. Schon im neunten Jahrhundert, also zur Zeit Karls des Großen, war León
Hauptstadt des Königreiches Asturien . So ist es nicht
verwunderlich, dass León auch heute noch reich an historischen Denkmälern ist,
und besonders Carol war schon ganz gespannt darauf.
Zunächst
fand ich die Stadt aber gar nicht schön. Graue, eintönige Häuser, viel Verkehr
und wenige Restaurants und Plätze, das war mein erster Eindruck. Ich wollte
unbedingt irgendwo draußen einen Kaffee trinken und ärgerte mich, dass wir
nichts Geeignetes fanden. Carol amüsierte sich über mich, dass ich die Stadt so
hässlich fand, und ich war wieder mal über mich selbst enttäuscht, über meine
ewigen Erwartungen…
Endlich
erblickten wir eine Bar, die in etwa meinen Vorstellungen entsprach. Wir
konnten draußen sitzen, essen und trinken, die Menschen beobachten und siehe
da: Genau gegenüber stand eine kleine Kirche und auf deren Turm ein stolzes
Storchenpaar, das gerade seine Jungen fütterte! Warum hatte ich mich vorhin nur
so geärgert? Es gab doch keinen Grund. Ich musste immer noch lernen, viel
gelassener zu werden! Gut, dass ich noch ein Stück laufen musste...
Nachdem
wir uns ein bisschen erholt hatten, begann die liebe Carol, mir wieder die
Schultern zu massieren, und plötzlich stand Aghi neben uns! Aghi , die gebürtige Rumänin, die wir in
Carrión de los Condes kennen gelernt und die uns mit ihren weisen Worten so
beeindruckt hatte.
Die
Freude war auf beiden Seiten riesengroß. Wir umarmten uns wie alte Freunde und Aghi bestellte erst einmal einen ganz speziellen Rotwein.
Es gab so viel zu erzählen. Aghi sprudelte wieder
über vor Mitteilungsbedürfnis und ich hatte Mühe, ihr zu folgen. Jedes kleine
Erlebnis auf dem Weg wurde von ihr überschwänglich berichtet; wo sie übernachtet
hatte, wen sie getroffen hatte und so weiter. Da sie den Weg ja schon mehrmals
gelaufen war, erklärte sie uns noch eindringlich, was wir uns auf jeden Fall in
León ansehen müssten und wo wir entlanglaufen sollten.
Ich
wollte gern im Hotel übernachten und Carol und Aghi lieber in der Klosterherberge. So kam es, dass wir uns erst einmal trennten, um
uns abends vor der Kathedrale wieder zu treffen. Obwohl ich das Zusammensein
mit Carol genossen hatte, war ich doch froh, endlich einmal für mich allein zu
sein. So konnte ich in aller Ruhe duschen und meine Haare und meine Wäsche
waschen. Mein kleines, schönes Zimmer mit einem wunderbar großen Bett besaß nur
ein Fenster zu einem Hinterhof und damit hoffte ich auf eine ruhige Nacht.
Zunächst
aber stand ich kurz vor dem verabredeten Termin staunend vor der imposanten
Kirche. Sie war ebenso wie die Kathedrale in Burgos im gotischen Stil aus
hellem Sandstein erbaut, wirkte aber in ihrer Vielfalt noch schöner. Laut
meinem Reiseführer soll sie sogar die schönste Kathedrale Spaniens sein, was
ich mir gut vorstellen konnte. Der Haupteingang bestand aus drei beeindruckend
verzierten Portalen, deren Überbau eine riesige Fensterrose krönte. Viele
facettenreiche Türme mit den verschiedensten spitzen Dächern in allen Größen
und Variationen begrenzten das riesige Kirchenschiff.
„So nice , that’s very nice !”, sprach plötzlich
eine Stimme neben mir, und als ich mich umdrehte, sah ich in Carols glänzende
Augen. „Impressed, really, how lucky that we can see it! ”, antwortete ich . Dies war wieder so
ein Augenblick, für den allein sich schon der Weg gelohnt hatte.
Eine
Menge Menschen, zwischen denen wir uns befanden, schien das Gleiche zu fühlen.
Doch
erst, als wir den Innenraum der Kathedrale betraten, erkannten wir das ganz Besondere
an diesem Bauwerk, und das waren die Fenster. Das Licht fiel in den
unterschiedlichsten Farben durch die fast 200 bunten Scheiben. Sie bestimmten
die wunderbare Atmosphäre in dem Raum,
Weitere Kostenlose Bücher