Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben in 38 Tagen

Das Leben in 38 Tagen

Titel: Das Leben in 38 Tagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Scheidecker
Vom Netzwerk:
nicht das Mauerwerk oder die Skulpturen.
Dabei schien jedes der Fenster ein anderes Muster und eine andere
Farbzusammenstellung mit besonders intensiven Farben zu haben. Es gab
ornamentale Muster mit verschiedenen Rosetten, aber auch Szenen mit Menschen,
Tieren und Heiligen. Besonders die Fensterrose über dem Eingangsportal wirkte
von innen sehr beeindruckend, weil gerade die Abendsonne genau hindurch schien
und so den gesamten Innenraum mitsamt uns in ein farbiges Lichtspiel tauchte.
Wir waren uns sicher, so etwas Schönes noch nie gesehen zu haben, und konnten
uns gar nicht satt sehen.
    Aghi hatte uns gedrängt, uns
unbedingt den Kreuzgang anzusehen, aber da wir uns nun scheinbar zu lange im
Innenraum aufgehalten hatten, war leider die Tür schon verschlossen. Wir
sollten morgen wiederkommen, erklärte uns die spanische Aufsicht, morgen nach
der Messe, die um 10.30 Uhr stattfinden sollte. Schade, denn das war mir zu
spät. Ich wollte morgen früh weiter laufen, um meinen Plan einzuhalten. Carol
versuchte zwar, mich zu überreden, noch einen Tag länger in León zu bleiben, um
uns gemeinsam die Sehenswürdigkeiten anzusehen, aber diesmal blieb ich hart.
    Dafür
ging ich aber anschließend mit ihr in die Klosterherberge, wo wir in der
Kapelle zusammen den abendlichen Gottesdienst besuchten. Obwohl das
Benediktinerkloster Platz für mehr als hundert Pilger bot, fand sich
erstaunlicherweise kaum einer von diesen bei der Messe ein. Außer Aghi und Anne aus Norwegen sah ich nur einige ältere Leute
und die Nonnen des Klosters. Auf mich wirkt die friedliche Atmosphäre in den
Klöstern immer sehr beruhigend. Doch nachdem ich mir die riesigen Schlafräume
angesehen hatte, war ich froh, dass sich eine andere Übernachtungsmöglichkeit
für mich bot.
    Wir
vier mehr oder weniger religiösen Pilger beschlossen nun, zusammen Abendbrot
essen zu gehen. In der Fußgängerzone der Innenstadt, genau zwischen dem Kloster
und meinem Hotel, gab es eine Menge kleiner Restaurants und gemütlicher Bars.
Spätestens jetzt musste ich mein Urteil vom Nachmittag revidieren. León war
doch eine schöne Stadt mit vielen sehenswerten alten Gebäuden, Plätzen und
romantischen Gassen.
    In
einer der Bars sahen wir schon viele Pilger sitzen und kehrten ein. Hier musste
es gut schmecken, denn fast alle Plätze waren besetzt. Wieder traf ich Achim
und das Ehepaar aus Kempten, das mit mir den Weg begonnen hatte. Die beiden
freuten sich besonders, mich zu sehen. Sie hatten doch tatsächlich einen Tag
Vorsprung herausgelaufen, denn sie waren schon seit gestern in León. Wir
bestätigten uns wieder gegenseitig, dass wir im Gegensatz zu anderen die gesamte
Strecke gelaufen waren, und beglückwünschten uns dafür. Ich konnte die beiden
fast Siebzigjährigen nur bewundern, wie stetig sie in ihrem Alter
vorwärtskamen, und sie bewunderten mich, weil ich allein lief. So ein bisschen
Anerkennung tat wohl jedem gut nach den ganzen Anstrengungen!
    Als
endlich ein Tisch frei wurde, genossen Carol und ich unseren wahrscheinlich
letzten gemeinsamen Abend. Anne aus Norwegen kannten wir schon von Bercianos
und auch von Mansilla de las Mulas. Sie war eine interessante, sehr gut
aussehende und viel jünger wirkende 65-jährige Frau, die bisher als
Reiseleiterin gearbeitet hatte und mehrere Sprachen sprechen konnte. Vom Leben
nicht gerade verwöhnt — die Tochter war kurz nach ihrer Hochzeit durch einen
Autounfall ums Leben gekommen und der eine behinderte Sohn hatte gerade eine
Krebserkrankung hinter sich —, strahlte ihr Gesicht trotzdem immer eine
freundliche Zufriedenheit aus. Ich glaube, sie hatte die Gabe, stets das
Positive zu sehen, obwohl ihr das bestimmt auch nicht immer leicht fiel. Sie
erzählte, wie gut sich ihr mongoloider Sohn entwickelt hatte und dass er
relativ selbstständig in einer betreuten , aber eigenen
Wohnung lebte. Seine Schwäche war es, dass er viel und gerne aß und
dementsprechend kräftig war. In dem vollgestopften Büro des deutschen
Hospitalero in Mansilla de las Mulas hatte ihm Anne das größte leuchtend blaue
T-Shirt gekauft, das es gab. Es trug ein großes gelbes „T“ als Frontdruck, und
da der junge Mann Tomas hieß und das „T“ über alles liebte, war dies doch ein
sehr passendes Geschenk.
    Auch
Anne war den Camino vor einigen Jahren nach dem Tod ihrer Tochter schon einmal
gegangen, und so konnte sie uns beiden „Neulingen“ nun zusammen mit Aghi wertvolle Tipps für den weiteren Weg geben. Begierig
wollten Carol und

Weitere Kostenlose Bücher