Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
einem Ruck das Laken weg, zack!, und erklärt zwei Sekunden später, er werde mich jetzt vor seinen Studenten untersuchen.
»Wenn Sie nichts dagegen haben«, fügt er in einem Ton hinzu, der keinen Widerspruch duldet.
Wenn ich »Doch!« antworten würde, das weiß ich genau, würde er mir das Bein mir nichts, dir nichts wieder durchbrechen.
Ich will mir mit diesem Halbgott lieber keine Mätzchen erlauben, wer weiß, ob ich seine Dienste in Zukunft nicht noch brauchen werde.
Die Koryphäe zählt für seine Studenten alle meine Defekte sowie die durchgeführten Reparaturen auf. Dabei wird mir klar, wie ramponiert ich bin.
Ich habe das dumpfe Gefühl, dass er mir nach seinen Kriterien eine Ehre erweist, wenn er mich zum Gegenstand seines heutigen Vortrags macht:
Knochen- und Gelenktraumata des älteren Patienten.
Wahrscheinlich sollte ich ihm dafür danken, dass er mir vor den drei Jünglingen mit den Augenringen und den zwei blässlichen Mädchen das Laken weggerissen hat; vom Fußende des Betts her blicken sie jetzt peinlich berührt direkt auf meine angejahrten Geschlechtsteile.
Ich fühle mich so pudelwohl wie ein Frosch auf dem Seziertisch.
Ich bin zwar nicht ausgesprochen prüde, aber ich zeige meinen athletischen Körper lieber selbst ausgewählten Personen, und zwar einzeln und nur dann, wenn sie dem schönen Geschlecht angehören.
Bei der Gelegenheit stelle ich fest, dass die Schamhaftigkeit mit dem Alter und dessen Verheerungen und Erschlaffungen zunimmt. Ich wäre sicher nicht im gleichen Maß verlegen gewesen, als ich noch einen Waschbrettbauch hatte.
Doch ganz offensichtlich sind derartige Betrachtungen dem Künstler fremd, der mich mit seinen harten Fingern abtastet, während er weiter meine Fallgeschichte abspult. Technik einwandfrei, Respekt Glückssache, Mitgefühl nur gegen Aufpreis. Für ihn bin ich in diesem Moment kein Mensch, sondern eine makellose Arbeit mit guter Prognose. Unnötig, das Gesicht zu verziehen, wenn er zu fest draufdrückt, er wird es nicht einmal sehen – er sieht nur meine Narben.
Sollte ich eines Tages wieder anständig laufen können, dann werde ich das zweifellos diesem Virtuosen des Skalpells und der zwischenmenschlichen Beziehungen zu verdanken haben. Ich weiß. Trotzdem komme ich nicht umhin zu denken, dass er nur seine Arbeit getan hat und dafür bezahlt worden ist.
Dankbar ist man für die Menschlichkeit, die jemand einem entgegenbringt, selten für seine Vortrefflichkeit. Dieser Chirurg hat die Herzenswärme eines Kühlschranks und flößt mir ebenso wenig Sympathie ein. Aber ich nehme an, das ist ihm egal, was ich ihm nicht verübeln kann.
Er beendet seine Untersuchung mit einem abschließenden Alles bestens! und wirft das Laken achtlos wieder über mich, wobei eins meiner Beine unbedeckt bleibt.
Dann rauscht er ab, gefolgt von seiner Herde, die schüchtern »Auf Wiedersehen« murmelt.
Die Tür bleibt offen.
Ich versuche an mein Laken heranzukommen, aber vergeblich.
D as erste Mal einkassiert wurde ich mit knapp acht Jahren.
Ich hatte mit roter Kreide in Großbuchstaben
Laferté ist ein Blötmann!
auf die Klowand geschrieben. Herr Laferté, mein Lehrer, erfuhr von irgendeinem petzenden Feigling davon und ertappte mich auf frischer Tat, als ich gerade den Punkt unter das Ausrufezeichen setzte.
Ich erinnere mich, wie ich hinter dem Lehrer und meinem linken Ohr her, das schmerzhaft zwischen seinen knochigen Fingern klemmte, den ganzen Hof überquerte. Ich lief schneller, als meine Beine gewollt hätten, direkt auf das Büro des Direktors zu, über alle Murmellöcher und Himmel-und-Hölle-Zeichnungen hinweg. Wie ein Ehrenspalier der Republikanischen Garde standen meine Mitschüler schweigend da und ließen mich durch, und ich konnte die Hochachtung in ihren Augen lesen. Ich hatte meinen Lehrer beschimpft, ich war ein Galgenvogel, ein Gangster, ein Held.
Ein Moment des Ruhmes, wie er in einem ganzen Leben nicht seinesgleichen findet.
Mein Lehrer berichtete dem Direktor, Herrn Respaud, von meiner Missetat und trocknete sich dabei mit seinem großen karierten Taschentuch die schweißnasse Stirn. Der Direktor musterte mich streng und donnerte: »Sind Sie etwa stolz auf Ihre Tat, mein Junge? Schauen Sie mir in die Augen!«
Der Direktor siezte uns, ließ die Luft gefrieren, unseren Darminhalt flüssig und unseren Mund trocken werden. Jetzt oder nie galt es zu beweisen, was ich in der Hose hatte. Aber ebenso gut hätte ich versuchen können, dem
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