Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
der Urgroßvater, so der Urenkel.
U nvorhergesehene Etappe der Einhandüberfahrt meines Lebens: Wegen einer Havarie liege ich im Trockendock eines Krankenhausbetts – Becken entzwei und Bein zersplittert – und habe so Zeit, Rumpf und Segel zu überprüfen und die Strecke zu ermessen, die mir vor dem letzten Hafen noch zurückzulegen bleibt.
Das Resultat ist nicht gerade erfreulich: Ende sechzig. Witwer ohne Hund noch Kind. Beginnender grauer Star, leichte Abnahme der Hörfähigkeit, etwas Cholesterin, Prostata wie eine Pampelmuse, nichts Außergewöhnliches. Zwei-drei Ersparnisse, mit denen ich nichts anzufangen weiß, eine viel zu große Wohnung, die ich seit zwölf Jahren mit ein bisschen Wandfarbe auffrischen will. Aber für wen, für was, wozu?
Seit sieben Jahren schon bin ich aus dem Arbeitsleben ausgeschieden. Ich bin im
Ruhestand
, aber das hat auch etwas von Aufgabe, Rückzug, Niederlage.
Ich sehe diesen Aspekt zwar, aber – ist das eine Wirkung des Morphiums oder die zunehmende Gelassenheit? – es stört mich nicht weiter.
Ich werde alt, das ist nicht von der Hand zu weisen. Ich habe Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten. Ich steuere still und langsam auf jenes Greisenalter zu, das ganz im Gegensatz zum konsumträchtigen, von den Medien umschmeichelten Seniorenalter keinen mehr interessiert, außer Augenärzte, Zahnärzte und Dekubitusmatratzenverkäufer. Die Blumenhändler nicht zu vergessen.
Und die Totengräber natürlich, um den Reigen abzuschließen.
E r kommt herein, ohne anzuklopfen, und versetzt mir ein Guten Tag! wie eine Ohrfeige.
Ich sage: »Ach, Camille! Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich wiedersehen würde, nach allem, was ich mir beim letzten Mal geleistet habe …«
»…«
»Na los, pack aus. Ich werde es dir nicht übelnehmen.«
Ich spüre, dass er innerlich auf hundertachtzig ist.
»Glauben Sie vielleicht, dass es leicht ist?«
»Dass was leicht ist? Zu sagen, was du denkst, oder auf den Strich zu gehen?«
»Pfff, Sie sind wirklich ein … ein …«
Ich seufze: »Ein Arschloch, ja, ich weiß. Das kann ich nicht abstreiten.«
Eine kleine Runde zum Aufwärmen kann nie schaden.
»Mit welchem Recht duzen Sie mich eigentlich?«
»Mit dem Recht des Altersunterschieds. Du könntest mein Enkel sein. Aber ich verbiete dir andererseits nicht, mich zurückzuduzen.«
»Sie haben mir nichts zu erlauben oder zu verbieten. Und als Großvater möchte ich Sie nicht geschenkt haben.«
»Wenn ich es wäre, würdest du nicht auf den Strich gehen, das garantiere ich dir.«
Er lacht bitter.
»Sie hören nie auf, über Leute zu urteilen, wie? Sie können wohl nicht anders? Ach, es kotzt mich an. Ich hab Sie aus dem Wasser gezogen, und jetzt fühle ich mich …«
»… gefickt?«
Verflucht, das ist mir zu schnell herausgerutscht. Ich versuche, es zurückzunehmen, aber zu spät: »Tut mir leid, das wollte ich wirklich nicht sagen.«
Er zuckt mit den Schultern und stellt sich ans Fenster. Er klopft mechanisch mit den Fingernägeln auf den Jalousien herum, das Geklapper geht mir auf die Nerven.
Schließlich sagt er mit dumpfer Stimme: »Ich bin nicht so, wie Sie glauben.«
Er dreht sich mit einem Ruck um. Ich kann sehen, dass er um Worte ringt. Dabei hat er seinen Monolog sicher einstudiert, bevor er hergekommen ist. Aber jetzt steht er vor mir und bringt ihn nicht heraus.
Ich versuche, ihm aus der Klemme zu helfen: »Warum tust du das? Für Drogen?«
»Pfff! Nein, überhaupt nicht! Ich bin clean. Ich rühre so was nicht an.«
»Aber warum dann? Für einen Zuhälter, der nichts tut außer vorbeikommen und kassieren? Es ist mir letztlich egal, weißt du, aber ich wüsste gern, warum. Vielleicht hat mich die Tatsache, dass ich noch am Leben bin, neugierig gemacht. Ich möchte gern verstehen.«
Er verzieht ironisch den Mund.
»Ach, Sie möchten ›verstehen‹? Das ist nicht weiter schwierig! Kennen Sie die Preise für Mieten, Essen, Bücher?«
»Ach, du liest Bücher?«
»Was ist das denn für ein bescheuertes Klischee? Warum sollte ich nicht lesen? Weil ich jung bin? Weil ich ›auf den Strich gehe‹, wie Sie sagen? Ich studiere Mathematik und Physik. Ich will in der Nuklearmedizin arbeiten. Ich muss im Juni eine Aufnahmeprüfung bestehen, und die ist sehr schwer.«
Ich bin geplättet, was man mir wohl ansieht: Seine Augen blitzen zwei Sekunden lang stolz auf.
Hab ich ihn erwischt, den alten Dreckskerl.
Er nutzt die Gelegenheit und erklärt mir sein
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