Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
mal über diesen Satz von Maurice Chevalier nachdenken: »Es ist ein sehr schlechtes Zeichen, wenn man vergisst, nach dem Pinkeln seinen Hosenladen wieder zu schließen; schlimmer ist es aber, wenn man vergisst, ihn vorher aufzumachen.«
Solange du noch nicht in diesem Stadium bist, ist nichts verloren, glaub mir.
Gut, dass du die Dinge wieder ins richtige Verhältnis setzt. Ich will versuchen zu relativieren. Danke für den Balsam auf meine Wunden.
Apropos Balsam, warte ab, bis du den Kouign-amann probiert hast, den ich dir mitbringen will, du wirst sehen, das ist eine mystische Erfahrung mit allem Drum und Dran: Du hörst die Engel im Himmel singen, siehst das weiße Licht am Ende des Tunnels. Danach wird dein Leben einen neuen Sinn haben. Du wirst wie verwandelt sein.
Und was trinkst du zu dem Zeug?
Gute Frage … Einen Cidre, um in der Region zu bleiben? Aber ich könnte auch einen Coteaux du Layon empfehlen, einen Vouvray, einen kleinen Jurançon, einen Riesling Spätlese, einen Champagner, einen Crémant?
So viele Wege führen zum Glück!
Kannst du ein paar Proben mitbringen?
Ist notiert. Ich stelle erfreut fest, dass dein Zustand nicht hoffnungslos ist.
Hoffnungslos nicht, aber doch sehr besorgniserregend. Ich brauche sehr viele Aufmerksamkeiten.
Du hast meine volle Anteilnahme, und ich werde zusehen, dass ich das Nötige mitbringe.
H eute Morgen habe ich es geschafft, allein aufzustehen. Der Physiotherapeut hat mir davon abgeraten, es sei ein wenig verfrüht, aber das ist mir egal, ich halte das Herumliegen nicht mehr aus.
In einer optimistischen Anwandlung – und um dem Reinigungspersonal freie Bahn zu lassen – bin ich sogar so weit gegangen, einen Ausflug auf den Flur zu wagen. Ich bin mit meinem Rollator bis zu dem kleinen Aufenthaltsraum vorgestoßen, etwa zehn Meter von meinem Zimmer entfernt. Dort bin ich vollkommen erschöpft in einen der grauen Sessel gesunken. Um mir keine Blöße zu geben und alle ringsum glauben zu lassen, dass ich vorhatte, genau da zusammenzusacken, tat ich so, als würde ich interessiert in den Zeitschriften blättern, die auf dem Glastisch lagen.
Wirtschaftswoche, Manager Magazin, Capital, Handelsblatt
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Lauter mit größtem Bedacht ausgesuchte Blätter, um den Patienten zu erlauben, von einer besseren Zukunft zu träumen, und ihrer Familie, sich mit der Lektüre der Börsenkurse auf gesunde Art abzulenken, während sie darauf warten, dass der frisch operierte Angehörige aus dem OP gerollt wird.
Als ich wieder aufgestanden bin, um in mein Zimmer zurückzugehen, habe ich ohne jede Absicht in dem großen Spiegel hinter den künstlichen Grünpflanzen einen Blick auf mich erhascht. Ich begutachtete meine allgemeine Erscheinung. Insbesondere das schicke weiße Hemd, das mir bis auf den halben Oberschenkel reicht und im Rücken so weit auseinanderklafft, dass alle Welt mein behaartes Hinterteil bewundern kann.
Aber ziehen Sie sich mal anständige Kleider oder auch nur eine Unterhose an, in meinem Alter, mit meinem Bauch und einem Bein, das vom Knöchel bis zur Leiste in einer Art Regenrinne steckt.
Bei mir zu Hause habe ich keinen Spiegel, abgesehen von dem über dem Waschbecken im Bad. Ich habe kein besonderes Bedürfnis, mich zu sehen. Es ist wie bei einem alten Ehepaar: Die Zeit der narzisstischen Verzauberung ist vorbei.
Ich sah mich also zum ersten Mal seit Monaten – und dazu noch von Kopf bis Fuß –, und es hat mich mit voller Wucht erwischt.
Nachdenklich bin ich in meine Junggesellenbude zurückgeschlurft. Im Zimmer roch es nach Brennspiritus und Desinfektionsmittel. Ich bin schnurstracks ins Bad gegangen. Es ist sehr geräumig – rollstuhlgerecht – und hinter der Tür ebenfalls mit einem großen Spiegel ausgestattet, für den ich bisher keine Verwendung hatte.
Ich habe den Riegel vorgeschoben und in trauter Einsamkeit mein Nachthemd ausgezogen.
Wenn ich ein Wort wählen müsste, um mich treffend zu beschreiben, wäre wohl »Ptosis« das passendste. Mein ganzer Körper scheint einem Erdrutsch zum Opfer gefallen zu sein.
Was das Gesicht angeht, ist das keine neue Entdeckung, schließlich rasiere ich mich jeden Morgen. Meine großen mandelförmigen Augen sehen seit längerem aus wie die eines Bluthunds. Das Gesicht ist um eine Stufe abgesackt, der Hals schwabbelt, die Stirn ist dafür umso höher. So hoch, dass sie eines baldigen Tages bis in den Nacken reichen wird. Staunend entdecken musste ich allerdings, dass ich das glorreiche
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