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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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bekommen.
    Zwei oder drei Jahre lang beschränkte sich meine Beziehung mit meinem Vater darauf, dass wir uns zwischen hartnäckigen Schweigeperioden immer mal wieder anschrien. Tagsüber zog ich einen Flunsch; nachts stieg ich aus dem Fenster. Wenn ich Pech hatte und er es merkte, wartete er in der Küche, löste Kreuzworträtsel und biss auf seinem Bleistift herum, während die Wanduhr Metronom spielte, bis ich zurückkam. Wenn ich endlich eintrudelte, drei Meter gegen den Wind nach Alkohol stinkend, brüllte er gedämpft, um meine Mutter nicht zu wecken. Er drohte, schwang die Faust, ohne die Bewegung je zu Ende zu bringen.
    Ich tat so, als hätte ich keine Angst.
    Meine Schultern waren breiter geworden, meine Stimme endlich eine Oktave tiefer, meine Hormone tobten, man ging mir besser nicht auf die Eier. Ich hatte Haare unter den Armen, ich war ein Mann.
     
    Uropa Jean, der im Morgengrauen aufstand, kam regelmäßig in den Genuss unserer morgendlichen Zusammenstöße. Er spielte den Schiedsrichter, zählte die Punkte für meinen Vater und für mich – ich verlor jedes Mal. Er machte sich einen Spaß daraus, fritteusenweise Öl ins Feuer zu gießen, warf meinem Vater Schwäche vor und prophezeite mir eine Zukunft als Sträfling.
    Ich hätte gern geantwortet, eine der größten Eisenkugeln, die ich im Leben mit mir herumschleppte, sei er. Aber ich fand nie die Worte, es ihm zu sagen.
    Mit sechzehn fehlt es einem nicht an Wut, nur an Schlagfertigkeit.
     
    In ruhigeren Phasen nervte mich mein Vater mit Plänen für meine Zukunft.
    Er hoffte, dass ich seine Nachfolge an- und in die ruhmvolle Welt der französischen Eisenbahn eintreten würde. Er hegte für mich einen grenzenlosen Ehrgeiz: Ich würde mich weiterbilden und befördert werden. Vom Eisenbahner könnte ich es zum Kontrolleur bringen. Wer weiß, vielleicht sogar zum Bahnhofsvorsteher.
    Er, der sich sein Leben lang in fruchtlosen sozialen Kämpfen aufgerieben hatte, wollte, dass ich es auf die andere Seite schaffte, zu denen mit Diplom, auf die Seite der großen oder kleinen Chefs. »In der Hierarchie aufsteigen«, davon redete er ständig. Sein Arbeiterstolz verlangte, dass ich es zu etwas Höherem brachte. Er pries mir das Leben bei der Bahn an, die Karrierechancen, die sicheren Arbeitsplätze. Und je länger er mir davon erzählte, desto mehr ödete es mich schon im Voraus an.
    Was ich wollte, waren Abenteuer, russisches Roulette in dunklen Kaschemmen, leichte Mädchen, illegale Bordelle.
    Ich wollte ein nicht alltägliches Leben.

H ier
hat
man keinen Knochenbruch oder eine Krankheit, man
ist
dieser Bruch oder diese Krankheit.
    Ich zum Beispiel bin »das Becken in Zimmer  28 «.
     
    Ich wage mir nicht vorzustellen, welch tägliche Demütigung es wäre, wenn ich wegen einer Hodenentzündung oder Hämorrhoiden im Krankenhaus läge.

I ch bin auf einen Artikel über männliche Prostitution in Marokko gestoßen. Ich muss an Camille denken.
    Ich habe mich erbärmlich benommen.
    Ich habe mit der Anmaßung dessen mit ihm geredet, der sich für weise hält, weil er laut ausspricht, was er im Innersten denkt. Als ob Ehrlichkeit genügen würde, um befugt zu sein, seine Meinung zu äußern. »Wenn ich ein Kind hätte, würde es mich umbringen, wenn es täte, was du tust …«
    Wie habe ich es wagen können, ihm das zu sagen?!
    Immer muss ich das Maul aufreißen, ich und meine große Klappe, meine schulmeisterliche Art.
    Der Junge hat schwere, schlimme Dinge erlebt. Mir fällt wieder ein, wie er gesagt hat: »In meiner Familie mag man Schwule nicht besonders.«
    Vermutlich haben seine Eltern sich für ihn geschämt und ihn rausgeworfen, so wie enttäuschte Kunden die Ware zurückschicken.
    So was gibt’s bei uns nicht, danke.
    Bei den Beschränkten ist die Dummheit bekanntlich schrankenlos.
    Sie sollten mal sehen, wie mutig er sich durchschlägt. Es braucht eine Menge Willensstärke, um all diese schmutzigen Momente zu ertragen und dabei sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, seinen Drang zu bewahren, es zu etwas zu bringen.
    Würde der Junge in Thailand oder in den Favelas leben, dann fände man seinen Werdegang bewundernswert, man würde Reportagen darüber drehen, und die Zuschauer wären zu Tränen gerührt. Dort drüben wäre er eine Art Held.
    Hier ist er bloß ein schwuler Stricher.
    Camille ist ein anständiger Kerl, das gibt es nicht so oft. Er hat mir nicht nur das Leben gerettet, sondern auch noch bei der Polizei ausgesagt, auf die Gefahr hin,

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