Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
Geld, Religion. Kein Bedarf, wir waren sowieso gut bedient, was Schimpftiraden und Wutanfälle anging, mit Uropa, meinem Vater und mir.
Ich bin ungläubig und glücklich damit. Ob die Leute glauben oder nicht glauben, ist ihre Sache. Jeder muss mit dem Leben, dem Tod, den Fragen ohne Antworten und den Zweifeln ohne Ausweg so gut zurechtkommen, wie er kann. Aber es soll sich keiner anmaßen, mir zu sagen, was ich glauben oder tun soll.
Marie-Christine ist darüber tief betrübt und denkt, es sei ihre Aufgabe, mir die Augen zu öffnen. Ich bin ihr edler Wilder, den sie zu bekehren hat. Sie meint es gut. Aber sie geht mir auf den Zeiger.
Ich habe für Missionare nichts übrig, abgesehen natürlich von der nach ihnen benannten Stellung.
Sie versteht meine Ketzerei nicht, wie alle Dogmatiker. Ich antworte ihr, dass die Religion beim Menschen das Schlimmste ebenso auf die Spitze treibt wie das Beste – eine Theorie, die leicht zu überprüfen ist, im Spannungsfeld zwischen der Pracht der Kathedralen und dem Gräuel der Kreuzzüge und der Inquisition.
Nicht der Glaube stört mich, sondern wie ihn manche Gläubige benutzen. Es wurde und wird weiter getötet im Namen eines hypothetischen Gottes, dem man – so es ihn denn gibt – jede Menge menschliche Unzulänglichkeiten zuschreibt. Letztlich frage ich mich sogar, wen ich mehr fürchte, den gewalttätigen Fundamentalisten oder den salbungsvollen Frömmler. Jeder schwenkt
seinen
Gott,
seine
Gebote und
seine
heiligen Texte wie Fahnen in einem Stadion. Die Fanatiker sind nichts anderes als eine verfluchte Hooligan-Bande: gefährlich, feindselig, verstockt.
»Ich werde für dich beten«, sagt Marie-Christine.
Gott sei Lob und Dank.
I ch hatte fast vergessen, dass mein Zimmer zwei Betten hat.
Ich habe einen Nachbarn bekommen, einen Leidensgenossen. Er wurde vorhin aus dem OP hochgebracht. Er steckt voller Schläuche, hat eine Sauerstoffmaske auf und atmet schwer, laut und mühsam. Es ist gar nicht so lange her, da war ich im gleichen Zustand.
Er hat weiße Haare, knochige Hände mit dicken blauen Adern, er sieht sehr alt aus.
Zwei große und starke Pflegehelfer manövrieren ihn von der Liege aufs Bett – Hast du ihn, alles klar? Dann los, bei drei: eins, zwei …
Ich erwarte beinahe, dass sie ihn wie einen Sack Zement vom Anleger auf den Kai werfen. Aber nein, das Umladen erfolgt ganz behutsam.
Einer der beiden schüttelt die Kopfkissen auf, zieht die Decke zurecht. Der andere lächelt mich herzlich an und meint: »Jetzt sind Sie nicht mehr allein! Ein bisschen Gesellschaft kann nicht schaden!«
Ich lächle gezwungen und verbeiße mir die Antwort, ich persönlich hätte um nichts gebeten.
Sobald der Frischoperierte versorgt ist, fällt die in Tränen aufgelöste Familie ein. Meine relative Ruhe ist dadurch ziemlich beeinträchtigt. Sie sind viele, sie sind überall, das Zimmer kommt mir plötzlich winzig vor. Eine sehr alte Dame ist dabei – die Gattin, vermute ich –, die sich mit Hilfe der anderen ans Bett setzt und still vor sich hin weint. Ihr Gesicht ist ganz grau, die Augen rot. Drei große Kerle und eine Frau, alle zwischen vierzig und fünfzig, stehen um sie herum.
Sie haben laute, schrille Stimmen und reden nonstop, vor allem die Frau.
Schließlich greift sie nach meinem Sessel.
»Darf ich? Sie haben doch nichts dagegen?«
Die Frage ist rein rhetorisch: Sie setzt sich, ohne meine Antwort abzuwarten.
Zwei weitere Besucher laufen ein, ein junger Mann und eine junge Frau um die zwanzig, Händchen haltend. Sie bleiben einen Moment ratlos auf der Schwelle stehen.
Dann wirft mir das Mädchen einen genervten Blick zu, als würde ich stören. Ich bin der ungebetene Gast inmitten des Familiendramas.
Ich kann nichts dafür, ich war vorher da.
Myriam kommt herein, dem Himmel sei Dank, und ruft sofort aus: »Hoppla, hoppla! Hier ist aber was los! Der Herr muss sich nach der OP erst mal ausruhen! Ein oder zwei Besucher auf einmal, nicht mehr. Auf, auf!«
Myriam hat es drauf, die Leute sanft rauszuschmeißen. Das Zimmer leert sich wie ein Abszess, bis wieder Platz und Luft zum Atmen ist.
Die alte Dame bleibt mit einem ihrer Söhne allein, dem Diskretesten von den dreien. Er schaut mich an, zuckt bedauernd mit den Achseln und flüstert: »Entschuldigen Sie, dass wir Sie stören, Sie brauchen sicher auch Ruhe.«
Meine schlechte Laune fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Er fügt hinzu: »Er ist mein Vater. Er hatte auf der Treppe einen
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