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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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wir
reden
müssen, und genau dazu sind mein Bruder und ich vollkommen unfähig. Bei solchen Gelegenheiten ist meine Schwägerin eine große Hilfe, das muss ich zugeben. Sie hat immer jede Menge Klatsch und Tratsch auf Lager, was uns erlaubt, die vorschriftsmäßige Besuchsstunde unbeschadet hinter uns zu bringen.
    Sie fängt an: »Die Tureaus wünschen dir gute Besserung!«
    Wie originell! Seit ich hier bin, wünscht mir alle Welt »gute Besserung«, per Telefon, Mail, Post oder über einen Mittelsmann. Bald werden sie mir Brieftauben schicken, das fehlt noch.
    »Gute Besserung«, was für ein bescheuerter Ausdruck! Als wäre ein Unfall der erste Weg zur Besserung.
     
    Ich bitte Claudine trotzdem, sich bei den Tureaus für mich zu bedanken. Jetzt kann sie nahtlos mit denselben Tureaus fortfahren, die ja
sooo
nette Leute sind, und dann weiter mit den Morels, den Gonsalvez, dem lieben Ahmed, Pauline und Jo, ihren Nachbarn oder Bekannten, die ich seit mindestens zwanzig Jahren nicht gesehen habe und von denen sie erzählt, als wären sie meine engsten Freunde.
    Sie holt Atem. Mein Bruder nutzt die Gelegenheit, um einzuwerfen: »Der Sohn von den Brunets lässt dich herzlich grüßen! Romain, weißt du?«
    »Ach, das ist ja
sooo
ein netter Junge!«, meint Claudine gerührt.
    Ich stimme träge zu: »Sicher, sicher …«
    Mein Tonfall lässt wohl durchklingen, wie piepegal er mir ist.
    Hervé hebt kurz den Kopf, wirft mir unauffällig einen halb vorwurfsvollen, halb fatalistischen Blick zu.
     
    Ich bin eben ein Eigenbrötler, ein gefühlloser alter Brummbär. Alles perlt an meinem dicken Fell ab, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.

I ch glaube, ich werde nie erfahren, was ich um fünf Uhr morgens auf dieser Brücke zu suchen hatte.
    Infolge des Schocks, des Stresses, der Schmerzen oder was auch immer ist ein Teil der Festplatte gelöscht worden. Das ist Fakt. Also kann ich jetzt genauso gut zu anderen Dingen übergehen.
    Ich habe sogar aufgehört, Mutmaßungen anzustellen. Fünf Uhr ist zu spät, um aus dem Kino, einem Theater oder einem Restaurant zu kommen, es ist nicht meine Art, zu Nutten zu gehen, ich habe keinen Hund auszuführen, und für einen Morgenspaziergang war es in Anbetracht der Jahreszeit etwas zu früh.
    Nichts zu machen, da ist ein schwarzes Loch.
    Ich habe nicht nur jede Erinnerung an diesen Abend verloren, sondern auch an die zwei oder drei Tage davor, vielleicht sogar mehr. Schwierig, das genauer zu bestimmen, ich habe einfach zu wenig Anhaltspunkte. Seit ich im Ruhestand bin, ähnelt ein Tag auf seltsame Weise dem vorigen, der seinerseits …
    Ich musste zuschauen, wie mein Terminkalender allmählich immer löchriger wurde und nunmehr große leere Zeitfenster aufweist. Aber wie mein Bruder Hervé sagen würde, der einen Sinn für sinnfreie Sprüche hat: »Solange es mich nicht stört, ist es mir nicht weiter unangenehm.«
    Tatsächlich gefällt mir das Rätselhafte an der Geschichte inzwischen sogar.
    Vielleicht werde ich mich selbst damit überraschen, dass es mir irgendwann demnächst wieder einfällt. Dann werde ich rufen: Himmeldonnerwetter! Aber natürlich!, und mir auf die Stirn schlagen wie irgend so ein alter Fernsehkommissar.
    Der Neurologe wirkt weniger optimistisch. Er versichert mir, nach einem Schädeltrauma würden viele Leute die Erinnerung an ihren Unfall nie wiedererlangen.
    Seiner Meinung nach wird das Loch bleiben.
    Aber der Typ ist depressiv, das spürt man. Er seufzt nach jedem dritten Wort und macht beim Reden seltsame Pausen. Ich habe immer Angst, dass er vor dem Satzende einnickt.
     
    Vielleicht steckt es ja an, wenn man es jeden Tag mit Leuten zu tun hat, die einen Sprung in der Schüssel haben. Er wirkt jedenfalls nicht mehr ganz dicht.

I ch schrecke aus einem komaartigen Mittagsschlaf auf, die Augen verklebt und die Zunge trocken wie Pappe.
    Die Rotzgöre sitzt an meinem Tischchen.
    Sie wirft mir einen Blick zu, sagt »hallo!« und surft seelenruhig weiter.
    Ich brumme »Finger weg von dem Computer«, was eher klingt wie
Fingr’eg vom Comiuter
, und sinke für einen Moment in Morphiums Arme zurück.
    Als ich wieder auftauche, sitzt sie immer noch da, aber diesmal auf dem Stuhl neben meinem Bett.
    Sie schaut mich an.
    Ich kann ihr billiges Supermarktparfum riechen, es nimmt mir den Atem und weckt mich vollends auf.
    Ich knurre: »Worauf wartest du eigentlich?«
    Sie macht eine ausweichende Handbewegung und fragt: »Wie heißen Sie mit Vornamen?«
    Vor

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