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Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Das Leben ist ein listiger Kater. Roman

Titel: Das Leben ist ein listiger Kater. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Widerhaken versehen oder mit gezähnten Kiefern zum Festsaugen, jedenfalls schwer wieder loszuwerden.
    Ja, kein Zweifel: Sie hängt sehr an mir.

I ch weiß nicht, wie Schriftsteller das machen. Ich habe da ja keine Übung und finde, dass Schreiben sehr zeitaufwendig ist und zum Nachdenken zwingt.
     
    Liegt es daran, dass ich in diesem trostlosen Zimmer eingesperrt bin, in dem die Sekunden doppelt so lang und doppelt so sinnlos sind? Jedenfalls wird mir das Ausmaß des Betrugs erst heute wirklich bewusst.
    Was mich bekümmert, ist der Zeitverlust. Nicht nur die Zeit, die ich hier verliere, sondern all die, die ich seit meiner Geburt verloren habe. Nicht die Stunden seligen Nichtstuns, in denen ich die Nase im Kopfkissen oder zwischen den Brüsten meiner Freundinnen vergraben habe, nein: die verschwendeten Tage.
    Die verlorene Zeit in einem Leben – das ist dunkle Materie, ein allgegenwärtiges
Nichts
, eine riesige Leere, die allen Raum ausfüllt, oder zumindest fast. Wenn ich meine Geschichte komprimiere, die ganze Leere abziehe, dann passen meine siebenundsechzig Jahre in ein Papiertaschentuch.
    Das ist das Prinzip der Vermehrung: Die Erde, die aus einem Graben gehoben wird, nimmt als Haufen am Straßenrand mehr Raum ein als in dem Loch, in dem sie sich befand, und die Artischockenblätter machen den Teller voller, nachdem die Artischocke aufgegessen ist.
    Mit zwanzig, dreißig dachte ich, ich könnte auf einen riesigen, unerschöpflichen Vorrat zählen, den Schatz eines Südseekönigs, eines korrupten Tyrannen.
    Heute stehe ich mit einer beinahe leeren Sparbüchse da. Ein altes, hässliches Porzellanschweinchen, in dem drei Münzen aus billiger Schokolade klimpern.
    Wenn man mir auf einen Schlag die Zeit zurückgeben würde, die ich damit vergeudet habe, zu warten, dass sie rumging, wenn man mir alle fruchtlos verstrichenen Minuten zurückerstatten würde, wie viel hätte ich dann auf der Bank? Monate? Jahre?
    Mit Zinsen vielleicht Jahrzehnte.
     
    Das Leben ist ein skrupelloser Betrüger: Wenn man nicht aufpasst, rupft es einen wie eine Gans und lässt einen mit leeren Taschen wieder laufen, wie einen Spieler, der ruiniert aus dem Casino kommt.

A nnie musste für meine beruflichen Entscheidungen bezahlen, das habe ich zu spät begriffen.
    Ich hatte beschlossen, im Ausland zu arbeiten. Das war mein persönliches Interesse, aber ich hatte mir mühelos eingeredet, wir würden beide davon profitieren: Weil ich mehr Geld verdiente, könnten wir uns mehr leisten.
    Uns mehr leisten? Aber wann?
    Sie hat es bald aufgegeben mitzukommen.
    Ich glaube, sie konnte mit der Poesie der Handelshäfen nichts anfangen. Der Möwendreck, die Kakerlaken auf den Kais, die Schiffssirenen und der Lysolgeruch – das reichte alles nicht, um sie zum Träumen zu bringen. Frauen sind schwierig.
    Ich wollte wegen der finanziellen Vorteile im Ausland arbeiten, aber vor allem, weil ich mich anderswo eben
anderswo
fühlte. In meiner seit jeher sesshaften Familie, die sich an ihre Wurzeln klammerte und an ihren eingefahrenen Gleisen klebte, war ich der Erste, der Grenzen überschritt, der den Boden von Ländern betrat, von denen ich als Kind stundenlang geträumt hatte, vor den großen Landkarten an den Wänden des Klassenzimmers.
     
    Am Anfang, glaube ich, litt Annie darunter, so oft von mir getrennt zu sein. Dann gewöhnte sie sich an meine Abwesenheit. Und mit der Zeit wurde die Einsamkeit für sie erträglicher als meine Anwesenheit. Das kommt davon, wenn man unabhängig sein will: Man wird überflüssig.
    Wenn ich heimkehrte, fragte sie mich in der ersten Zeit noch mit einem verliebten Lächeln, zugleich besorgt und vertrauensvoll, ob ich brav gewesen sei.
    Eines Tages hörte sie dann auf, mir diese Frage zu stellen. Dabei habe ich sie nicht oft betrogen, »nicht oft« ist sogar fast übertrieben. Zwei Eskapaden, darunter eine im Suff, ich erinnere mich nur noch, dass es eine falsche Blondine war.
    Zwei Seitensprünge in dreißig Jahren, das ist kein besonders guter Schnitt. Zu kümmerlich, um als Casanova zu gelten, aber genug, um mich als anständigen Kerl zu disqualifizieren.
    Die Erste, die Wasserstoffblondine, das war bei einer Betriebsfeier. Es war heiß, sie war heiß, die Musik nicht schlecht, ich hatte etwas über den Durst getrunken und meine Frau seit über drei Monaten nicht gesehen, da hat das reptilische Gehirn die Macht übernommen. Am nächsten Morgen bin ich mit einem Kater aufgewacht, eine Hand auf einer für sie viel

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