Das Leben ist groß
Erfrischungstuch gereicht bekam.
Er besuchte Nachtklubs. Er tanzte nie, sondern sah nur zu. Er traf Blondinen. Er traf Brünette. Er traf Zentralasiatinnen, die, wie sich herausstellte, überhaupt keine Schambehaarung hatten. Und eines Abends, als er bis spät unterwegs war, etwa fünf Jahre nach seinem Sieg in der Weltmeisterschaft, traf er eine Rothaarige, die still in sich hineinlächelte.
»Hallo«, sagte er. »Was wissen Sie, das ich nicht weiß?«
Sie zuckte mit den Schultern, und damals wertete er es als Zeichen, dass sie tatsächlich etwas verbarg. Später wusste er, dass er besser seinen Augen getraut hätte.
»Sie sind der Schachweltmeister.«
»Ja.«
»Aber das wussten Sie schon.«
Er zog den Kopf ein. »Vermutlich.«
Sie trank Sekt. Er fragte sich, ob sie etwas zu feiern hatte. Sie legte den Kopf schief; ihr rotes Haar war bei dem Licht unbeschreiblich schön. Nein, beschloss er, sie hatte nichts zu feiern. Sie brauchte keinen Grund.
»Und wer sind Sie?«
»Nina«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. Ihr Handgelenk war unfassbar zart und feminin, von erstaunlicher Qualität. Sie schien ein Mensch zu sein, mit dem sich jemand Mühe gegeben hatte, während Alexander gern von sich sagte, Gott habe ihn im Dunkeln erschaffen, einhändig und wahrscheinlich betrunken. Natürlich glaubte Alexander nicht wirklich an Gott, aber er mochte diesen Witz und erzählte ihn oft. Er überlegte, ihn jetzt wieder zu erzählen, betrachtete dann aber noch einmal ihr Handgelenk und überlegte es sich anders.
Sie lächelte ihn an. »Das war mutig, wie Sie die bei der Weltmeisterschaft dazu gebracht haben, das Spiel fortzusetzen.«
»Mutig?«
Es war lange her – zu lange –, dass irgendjemand ihn als mutig bezeichnet hatte. Nein, vielleicht hatte das überhaupt nie jemand getan. Höchstens Elisabeta, wegen der Flugschrift, aber das war vor Ewigkeiten, in einem anderen Leben. War Ninas Einschätzung unverdient? Vielleicht. Das Risiko, das er mit der FIDE eingegangen war, war kalkulierter, eigennütziger gewesen; schließlich hatte er sich nicht gegen sie aufgelehnt, weil sie so moralisch bankrott war – er hatte sich gegen sie aufgelehnt, weil sie ihn über den Tisch ziehen wollte und er schon zu viel verloren hatte, um sich so spät noch über den Tisch ziehen zu lassen. Also bewunderte sie ihn für einen Impuls, der so banal, oberflächlich und reflexhaft war, wie wenn man die Hand von jemandem fortschiebt, der einem in die Tasche greift.
»Ja«, sagte sie. Sie ergriff seine Hand. »Es war waghalsig. Nicht jeder hätte sich das getraut.«
»Na ja«, sagte Alexander. Er spürte das Knirschen sich verschiebender Kräfteverhältnisse; er wusste, dass er sich mit seiner Antwort Zeit lassen konnte, dass sie warten würde. »Es war eigennützig, wissen Sie.«
Sie lachte ein wenig. Er roch den Sekt, den sie getrunken hatte, die leichte Essignote darin; ein billiges Gesöff, dachte er. Er wollte ihr etwas Besseres kaufen. »Rational egoistisch«, sagte sie. Als er später daran zurückdachte, fiel ihm auf, wie sie anfangs oft Schlagworte oder Versatzstücke aus einem akademischen Fachjargon benutzt hatte, am liebsten im falschen Kontext und leicht schief; ihre Art zu sprechen schien auf ein tiefes Verständnis breiter Wissensbereiche hinzudeuten. Es stellte sich bald heraus, dass sie nur eine Anzahl Begriffe auswendig gelernt hatte, die, mit einem wissenden Gesichtsausdruck kombiniert, bei Männern den Eindruck erweckten, sie besäße so etwas wie Intelligenz, wenn sie schon geneigt waren, darauf zu hoffen.
»Genau«, sagte er. »Rational egoistisch. Sagen Sie es nicht meinen Beratern.«
»Im Leben nicht. Dieser Russajew – sagen Sie, ist der wirklich so hässlich, wie er im Fernsehen aussieht?«
Sie lachten. Er erzählte ihr teils ausgeschmückte Anekdoten über Russajews Körperhygiene, seine Angewohnheiten und Ticks und Forderungen. Er machte nach, wie Russajew sich manchmal vorbeugte, einen mit der irrationalen Hoffnung quälte, er werde endlich seinen Zug machen, sich dann aber wieder zurücklehnte, dann wieder vor, dann zurück, bis einen nervöse Erschöpfung überkam. Außerdem hatte er die Angewohnheit, seine Figuren ewig lange festzuhalten; mit einer Drehung des Handgelenks ließ er erst alle Finger darauf ruhen, dann zwei Finger, dann einen und zog sich langsamer zurück als die Amerikaner aus Vietnam, sagte Alexander, und Nina lachte. Es war ein wunderbares Lachen, hell und glockenklar. Es klang
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