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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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essen, liegen falsch herum im Bett und sehen das nekrotische Licht am Horizont heraufkriechen, bloß weil ein Junge, der uns nie geliebt hat, es immer noch nicht tut? Solche Qualen, so viel Narzissmus, so viel Geschichtsblindheit. All die großartigen Vorhaben sind am Ende doch nicht so groß. Es sind alles läppische kleine Anwandlungen, Stückwerk zur Abwehr des Unausweichlichen, müßige Versuche, uns abzulenken, die allein dazu da sind, diese eine Tatsache zu entschärfen – die zentrale Tatsache, die unglaubliche, unumstößliche Tatsache unserer Vergänglichkeit.
    »Ich denke schon«, sagte ich zögernd.
    »Das hat ihn bestimmt nicht glücklich gemacht.«
    Ich zuckte ruckartig, ausweichend mit den Schultern. Ich imitierte die Art, wie er kurz davor mit den Schultern gezuckt hatte.
    »Wahrscheinlich nicht.«
    »Hat es Sie glücklich gemacht?«
    »Bis jetzt nicht. Ich bin verhalten optimistisch.«
    »Das ist wahrscheinlich zu optimistisch.«
    Etwas Durchtriebenes regte sich in seinem Gesicht, wie ein Penimento, ein Echo früherer Absichten. Die ganze Zeit schon hatte eine Spannung das Gespräch durchzogen, hatte die Oberfläche mit einem synkopischen Kontrapunkt unterlegt. Wir waren kämpferischer als nötig, das war es.
    Er verlangte per Handzeichen nach der Rechnung und bezahlte sie, bevor ich auch nur angefangen hatte, in meinem Portemonnaie zu wühlen. Ein Gefühl der Zuneigung bahnte sich an, schwenkte sich, wie so oft, auf eine neue, unerwartete Richtung ein. Ich dachte kurz an meine Serie von Männergeschichten am College: insgesamt eher unerheblich; es fiel mir schwer, mir einzelne Gesichter oder Persönlichkeiten ins Gedächtnis zu rufen, während ich mich an die Enttäuschungen, Missverständnisse und Erniedrigungen nur allzu leicht erinnerte. Ich fragte mich, wie halbgare Mini-Affären im Jahr 2006 überhaupt aussehen mochten – wahrscheinlich fragten sich die Leute ständig, ob sie verlassen wurden, weil sie nicht genug Präsenz im Internet zeigten oder so. Das Internet: ein komplett neuer Schauplatz der existentiellen Bedeutungslosigkeit. Sobald mir klar wurde, worüber ich da nachdachte, wusste ich, dass ich betrunken war.
    Draußen auf der Straße waren die Gebäude zu klar umrissen, als seien sie eben frisch skizziert; die Sterne waren ein Stück heller, als es glaubhaft gewesen wäre; ich fühlte mich insgesamt, als hätte ich vor kurzem neue Kontaktlinsen bekommen. Das – das alles, ich wusste es ja – war albern. Was mir am Betrunkensein gar nicht gefiel, war, dass es das gesamte Selbstmitleid auf einmal freisetzte – und in meinem Fall war dieses Selbstmitleid gewaltig, nagendund unersättlich; es war ein ständiger Kampf, es im Zaum zu halten. Wenn ich trank, brach meine Verteidigung in sich zusammen, und ich konnte ohne weiteres eine Stunde vor dem Spiegel zubringen und denken, ich sei zu hübsch, um zu sterben.
    »Also dann«, sagte ich unvermittelt hölzern, unvermittelt professionell. »Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben.«
    Ich reichte ihm die Hand und wusste sofort, dass das ein Fehler war.
    »Sehr gern geschehen«, sagte er, nahm meine Hand und schüttelte sie kunstvoller als unbedingt nötig. »Dann sehen wir uns bei der Kundgebung.«
    »Ja«, sagte ich, nahm all meine Selbstachtung zusammen und versuchte einen stimmigen Abgang hinzubekommen. »Wir sehen uns auf der Kundgebung.«
    Ich ging langsam, in immer weiter werdenden Kreisen zurück. Die Newa wirkte kälter als sonst; sie zitterte mit ihren Blättern und Treibgutstückchen. Ich hielt an und starrte hinein, um den Kopf freizubekommen. Dass ich ins Wasser sah, rief aus irgendwelchen Gründen – oder auch ohne Grund – ein Bild meines Vaters in mir wach. Vielleicht war es die Erinnerung an eine Erinnerung oder die Erinnerung an ein Foto. Jedenfalls starrte ich ins Wasser und konnte ihn beinahe vor mir sehen, einem Ostfenster zugewandt, seinen harten Schatten im schräg einfallenden Licht. Ich konnte beinahe seinen gebeugten Rücken, seine hängenden Schultern sehen. Beinahe erkannte ich darin seine vorzeitige Resignation. Als dieses Bild aufgenommen wurde oder diese Erinnerung entstand, wusste er es schon. Er wusste es, musste es gewusst haben. Und doch ist es so schwer, den Moment abzupassen, wenn der Scheideweg erreicht ist. So schwer zu wissen, ob es Zeit ist zu gehen. Es ist ein Strategiespiel, das niemand gewinnen kann. Vielleicht hatte er darüber nachgedacht, hatte sich verschätzt, und dann war es zu spät.

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