Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
Vom Netzwerk:
Krieg; Sex dagegen stand für sich selbst. Wer hatte also am Ende die größere Macht?
    Sie verfielen in eine Routine, bei der sie ihn fortwährend spielerisch kritisierte und er ihr unendliche Toleranz entgegenbrachte, und das schien die Verwerfungen in ihrer Beziehungslandschaft ein wenig einzuebnen. Alexander mochte ein Schachmeister sein, aber er war auch einfach nur ein Mann und hatte als solcher die ständigen Vorwürfe schöner, anspruchsvoller Frauen verdient. Das sah er ein; er hatte in seinen eigenen Augen sogar mehr Vorwürfe verdient, als selbst Nina ihm je machen konnte, wenn auch aus Gründen, über die er nie mit ihr sprach.
    Er kaufte ihnen beiden eine prachtvolle Wohnung mit Blick auf den Newski-Prospekt (teuer). Er kaufte einen pflegeintensiven kleinen Hund mit Silberblick (ebenfalls teuer). Nach einer angemessenen Zeitspanne heirateten Nina und Alexander.
    Ein Jahrzehnt verstrich, erst in Zeitlupe und dann schneller und schneller. Wenn Alexander zurückblickte, kamen die Erinnerungen bruchstückhaft und verzerrt, in Wiederholungsschleifen und Sprüngen, wie von einer zerkratzten Schallplatte. Es hatte gute Zeiten gegeben, das wusste er genau – manche Nächte mit Nina, besonders anfangs, auch wenn sich im Nachhinein nicht leicht sagen ließ, wie viele Nächte wirklich schön gewesen waren. War es eine Nacht gewesen, zwei, ein halbes Dutzend oder ein ganzes? Oder war es typisch für sie, war es üblich gewesen, engumschlungen vor dem gewaltigen Panoramafenster zu tanzen, St. Petersburg zu ihren Füßen, das im Mondlicht in der gleichen Pracht erstrahlte wie das Alte Rom? Was man sich ausmalt, daran erinnert man sich, und woran man sich erinnert, ist alles, was einem bleibt. Warum sollte man es sich also nicht ein wenig anders ausmalen? Es war immerhin möglich, dass die Ehe nicht von vornherein ein grauenhafter Fehler gewesen war. Es war möglich, dass sie glücklicher waren, als er es manchmal glaubte.
    Doch wenn er sich an das Gute zu erinnern versuchte, kamen ihm vor allem Banalitäten in den Sinn: Da war Nina, wie sie 1993 vor dem Spiegel ihr Haar kämmte; da war sie noch einmal, 1997 ungefähr, mit etwas längerem Haar und einer etwas tieferen Zornesfalte. Er erinnerte sich an den evolutionären Wandel ihrer Schlafbekleidung, an die zyklischen Abfolgen ihrer Schuhe im Rhythmus der Jahreszeiten und der Gestirne. Er erinnerte sich an Dinge, die sie gekauft hatten: die Stereoanlage, die im Dunkeln zu vibrieren schien, mit einer Fülle von Reglern, Knöpfen und Schaltern, die in Alexanders Augen wie das Kontrollfeld eines Raumschiffs aussahen; die Computer, die anfangs bedrohlich aufragende Kolosse waren, halb so groß wie Alexander selbst, und dann langsam zu boshaft glänzenden, verwirrend unaufdringlichen Objekten zusammenschrumpften. Er erinnerte sich auch an Ninas lange Reihe von Freundinnen, die sich farbenfroh kleideten und verschwörerisch die Köpfe zusammensteckten. Sie kamen zum Mittagessen, zum Abendbrot und blieben ewig auf ein Gläschen da. Sie kamen in wechselnder Besetzung: Er konnte sich nie ihre Namen merken, verwechselte immer eine mit der anderen, wurde immer zurechtgewiesen, gelobte immer Besserung und vergaß im nächsten Moment doch wieder ihre Namen. Die Frauen lästerten oft wegen irgendwelcher Mängel übereinander, die Alexander nie aufgefallen wären – wer ein Treffen verpasste, galt als Freiwild. Egal, wie gründlich eine der Frauen in ihrer Abwesenheit von den anderen auseinandergenommen wurde – wenn sie wiederkam, begrüßte man sie mit derselben atemlosen Anteilnahme, demselben falschen Lächeln, demselben erstaunten Heben der Augenbrauen wegen derselben erbitterten Klagen über unverschämte Kinder und abgestumpfte Ehemänner. Dann folgten dasselbe herzliche Einvernehmen und dasselbe Gläserklirren.
    Und Alexander erinnerte sich an die halbherzigen Versuche, ein Kind zu bekommen. Im Laufe der Jahre nahm Nina drei verschiedene chemische Verhütungsmittel und setzte sie halbherzig wieder ab; 1994 verzichtete sie wieder darauf – diesmal ernsthaft und absichtsvoll–, und sie warteten. Nichts geschah. Sie warteten weiter. Es geschah immer noch nichts. Alexander erinnerte sich an die allmähliche Erkenntnis, dass es länger dauerte als gewöhnlich, dann viel länger als gewöhnlich, und dann die Einsicht – die sie, wenn auch unausgesprochen, ganz sicher beide hatten –, dass sie nicht so enttäuscht waren, wie man es hätte erwarten können. Er beobachtete, wie

Weitere Kostenlose Bücher