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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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nicht unbedingt so, als drücke es wahres Vergnügen aus, aber das störte Alexander in dem Moment nicht.
    Irgendwann im Laufe des Abends begann er sie sich genauer anzusehen.Er begriff, dass er sich einmal an diese erste Begegnung würde erinnern wollen, also versuchte er sich einzuprägen, was sie anhatte, wie sie aussah und was ihre ersten Worte gewesen waren. Wenn sich die Geschichte weiterentwickelte, würden diese Details bedeutsam sein.
    Am Ende des Abends begleitete er sie zur Tür und sah sie liebevoll an, küsste sie aber nicht. Er hätte es tun können, das wusste er, er hätte tun können, was immer er wollte; vor einer Abfuhr hatte er keine Angst. Aber er wollte später die Möglichkeit haben, ihr zu erzählen, wie er sie habe küssen wollen und zu schüchtern gewesen sei. Es sollte Teil der Geschichte werden, die sie einander einmal erzählen würden.
    Am nächsten Abend küsste er sie dann und nahm sie mit nach Hause. Und von da an waren sie ein Paar.
    Er führte sie in Privatklubs mit reservierten, abgesperrten Logen aus, in denen schimmernde Wodkakrüge und frische Obstsäfte bereitstanden. Er ging mit ihr tanzen. Er ging mit ihr ins Ballett. Sie war keine Intellektuelle, aber auch kein Kulturbanause – sie liebte Malerei und Gesang. Sie kannte sich weder mit Kunst- noch Musikgeschichte aus, aber das hinderte sie nicht daran, Kunst und Musik zu mögen; sie war keine Theoretikerin, und das war ja so erfrischend. Für sie quälte er sich – zwei Mal sogar – durch eine Oper, und es war beinahe der Mühe wert, nur um Nina so ergriffen zu erleben: die schöne Leere ihres erschütterten Gesichts.
    Sie begann sich für Biorhythmen zu interessieren und für Energiefelder. Sie sah sich gern Kaschpirowskis Massenheilungen im Fernsehen an. Für Politik interessierte sie sich nicht. Sie fand öffentliche Auftritte peinlich. Die beiden sahen sich offenen Mundes den Putschversuch an, aber als es vorüber war und Jelzin die Nation gerettet hatte, wollte sie nicht hinaus auf die Straße. Er versuchte sie zum Juri-Schewtschuk-Konzert zu schleifen, wo 120 000 Menschen sich auf dem Palastplatz im Takt wiegten, doch sie verdrehte nur die Augen. Sie würde eher in aller Öffentlichkeit weinen, sagte sie, als öffentlich einen Popmusiker anzuhimmeln. Unddamit war die Diskussion beendet, denn Alexander hatte Nina in all den Monaten nie – nicht ein einziges Mal – weinen sehen, auch wenn er ein, zwei Mal den Verdacht gehabt hatte, dass sie hinter den Kulissen Tränen vergoss.
    Das machte nichts. Das machte überhaupt nichts. Endlich war da eine Frau, die ihn als das liebte, was er war, nicht was er – unbeholfen! – zu sein versucht und worin er – erbärmlich! – versagt hatte. Wenn diese Frau Sachkompetenz wollte – die hatte er reichlich. Wenn sie Skrupellosigkeit wollte – daran arbeitete er. Es war besser, für das eigene elende Ich geliebt – oder was auch immer – zu werden als für eine entstellte Version dessen, was man hätte werden können. Genau solche Diskrepanzen führten immer zu Enttäuschungen.
    Und noch etwas kam hinzu: Er war zweiunddreißig. Es musste nicht unbedingt Nina sein, aber irgendeine musste es sein, um des Anstands willen. In Familiendingen war er immer anständig geblieben: Er hatte seine Mutter und zwei seiner Schwestern aus ihrer altertümlichen Hütte in Ocha gerettet (die dritte hatte einen beinahe zahnlosen Störfischer geheiratet und sich geweigert zu kommen).
    Nina und Alexander mochten ein ungleiches Paar sein, aber in ihrer Ungleichheit lag eine gewisse Symmetrie: Sie war so viel schöner als er, er war so viel talentierter und erfolgreicher als sie, und war das nicht das typische Tauschgeschäft mächtiger Männer? Es war ein prekäres Einvernehmen, ein wackeliges Gleichgewicht des Schreckens – jeder der beiden konnte den anderen verletzen, indem er ihm vorwarf, nicht das zu sein, was einmal gewünscht worden war. Wenn er sie hätte verletzen wollen, hätte er darauf hinweisen können, dass es zahllose schöne Frauen gab, aber nur einen Schachweltmeister (bis auf weiteres: ihn). Er hätte sagen können, wie vergänglich Schönheit war. Aber sie hätte antworten können, dass alles vergänglich war – Schachfähigkeiten hielten sich nur unwesentlich länger als Schönheit; beides waren Spiele, in denen die Jungen bessere Chancen hatten. Und überhaupt – was bedeutetedie Vorherrschaft auf dem Schachbrett im Vergleich zu der im Bett? Schach war eine Metapher für den

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