Das Leben ist groß
gab einfach keine richtige Antwort. Es gab keinen richtigen Weg, nur unzählige falsche, ein jeder so einzigartig wie eine Schneeflocke.
Ich wusste nicht, was die humane Lösung gewesen wäre, nur, dass ich sie nicht praktizierte.
Ich wandte mich von der Newa ab und lief auf die Brücke zu. Die Luft war unnachgiebig kalt, die Stadt in eine Dunkelheit gehüllt, die nicht enden zu wollen schien.
Einmal, glaube ich, habe ich aus der Krankheit meines Vaters etwas gelernt. Meistens lernte ich nichts; meistens grollte ich nur und opponierte und machte unmissverständlich klar, wie wenig mir persönlich das alles gefiel, wann immer jemand mir zuhörte, was praktisch nie geschah. Aber ein Mal vielleicht, als mir vor Überdruss die Kiefer schmerzten, in einem dieser heillosen, größtenteils vergessenen Jahre, hatte ich eine Art kleine Erleuchtung. Ein Mal vielleicht sah ich ihm in das erschütterte, erlöschende Gesicht und wusste etwas, von dem ich keine Wahl hatte, als es zu wissen.
Hinter mir verdämmerte die Newa. Der Himmel verausgabte sein letztes Fädchen Licht.
Persönlichkeit ist Kontinuität. Persönlichkeit ist der Mythos der Kontinuität. Und die Person geht verloren, wenn ihr nie etwas alt erscheint, wenn nichts ihr vertraut ist, wenn alle Parallelen, alle Symbole, alle Analogien fehlen; wenn die Welt fortwährend staunenswert ist; wenn wir endlich, endlich wieder Neugeborene sind.
TEIL ZWEI
KAPITEL 13
Alexander
St. Petersburg, 1986–2006
Die Achtziger gingen in die Neunziger über, und Alexander wurde wieder schlanker. Sein Ansehen bei den Frauen stieg, und es gab eine Art Volksaufstand in seinem Privatleben. Plötzlich waren sie überall – mit ihren schmalen Brauen, ihren schmalen, blassen Gesichtern und langen Gliedmaßen, mit warmen Hintern, die sie die ganzen langen Winter über gegen seine Schenkel pressten. Sie fanden seine Witze umwerfend und seine breite Nase distinguiert und sein Schachgerede faszinierend . Als er dann auf CNN auftrat und Vorträge an renommierten amerikanischen Universitäten hielt, wurde er geradezu überschwemmt: Er begann ihnen ihre Schönheit, ihre selbstverständliche Verfügbarkeit beinahe übelzunehmen. Er gewöhnte sich an, mit Frauen zu schlafen, deren Nachnamen er nicht kannte, dann gewöhnte er sich an, mit Frauen zu schlafen, deren Vornamen er nicht kannte. Er fragte nicht danach, und er versuchte es zu vergessen, wenn sie es ihm sagten. Eine Zeitlang wurde Sex langweilig; manchmal sehnte er sich, nur zur Abwechslung, nach einer Abfuhr.
Er dachte daran zurück, wie Elisabeta ihn verlassen hatte, als er ihre Liebe noch verdient hatte und es wert gewesen wäre. Jetzt, das wusste er, verdiente er keine Liebe mehr.
In dem anderen Leningrad – dem, in dem Alexander nicht mehr lebte – standen Menschen für Toilettenpapier bis zur Straßenecke Schlange. Im Fernsehen stellte dieser lächelnde, affenähnliche amerikanische Präsident weiter seine Forderungen. Als die Satellitenstaaten wegbrachen – beinahe mühelos, als sei die Sowjetunion einverrottendes Ding, das nur allzu gern alles Unnötige abstieß – richtete er sich gerade auf und erlaubte sich dreißig Sekunden Optimismus. Er unterstützte Gorbatschow von Anfang an; er wartete in der Kälte, bis seine Ohren rot waren, und weinte, als er seine Stimme für Jelzin abgab. Das Museum für die Geschichte der Religion und des Atheismus wurde wieder zur Kasaner Kathedrale. Die Kommunistische Partei wurde verboten; der Rubel wurde eine konvertierbare Währung; staatliche Betriebe wurden von der gewaltsamen Privatisierung erfasst; die Inflationsrate stieg auf zwanzig Prozent. Die Ladenregale füllten sich wieder, aber niemand konnte die Waren kaufen. Als sich die Preise verdreifachten, begannen die Menschen ihre Hunde fortzujagen, die wie Bettler räudig und verdrossen durch die Straßen zogen. Die Bevölkerung schrumpfte um sechshunderttausend Menschen pro Jahr. Ja, für das einfache Volk war es sicherlich eine harte Schocktherapie, aber das waren eben die Geburtswehen des Kapitalismus, der Sockel, auf dem das überragende neue Russland errichtet werden würde. Und in der freien Marktwirtschaft schrieb Alexander ein Buch über Schach und Unternehmertum, das fünf Millionen Dollar einspielte. Er beabsichtigte, sich dankbar in den verschwenderischen Reichtum der nagelneuen postkommunistischen Oligarchie fallenzulassen – mit Whirlpools, Frauen und der Sorte Reisen, bei denen man an der Datumsgrenze ein dampfendes
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