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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Nina beim nächsten negativ ausgefallenen Test – dem elften oder zwölften – die Lippen schürzte und wusste, dass sie etwas verblüfft, aber nicht verzweifelt war. Sie beide und ein Baby: Was hätten sie denn damit anstellen sollen? Nina war gut darin, sich um Dinge zu kümmern – um die Stereoanlage zum Beispiel und ihre stetig wachsende Sammlung heikler Seidenkleider –, aber Dinge waren still und stumm und verhältnismäßig leicht sauber zu halten. Eine Schwangerschaft, eine Geburt, ein plärrendes Kind, das ständig den Schnabel aufsperrte – das klang nicht nur ermüdend, sondern peinlich. Nach ein, zwei Jahren standen wieder Verhütungspillen im Badezimmerschrank, und Alexander beklagte sich nicht.
    Sie stritten sich nicht. Nie. Manchmal wechselten sie tagelang kein Wort, aber selbst das musste kein Zeichen des Unfriedens sein – er vergaß manchmal einfach, mit ihr zu reden. Ihr Liebesleben siechte leise und klaglos, mit dem ganzen demütigen Ernst eines religiösen Märtyrers dahin: Erst wurde der Sex Routine, dann selten, dann gereizt und unwillig und, wie Alexander verbittert feststellte, verbittert. Und dann wurde er ein seltener Glücksfall, ein undeutlich durch einen Sternennebel erspähter Komet – er kam nur vor, wenn sie getrunken hatte oder er ihr schmeichelte oder wenn sie (selten, selten) gemeinsam lachen konnten. Manchmal vollführte er eine Art Ritual, das sie wieder zu dem machen sollte, was sie einmal gewesen waren, aber gerade dann wusste er am wenigsten, was das eigentlich war. Er versuchte es trotzdem: Er legte grauenhafte Liebeslieder aus den frühen Neunzigern auf, die sie zu Beginn ihrer Beziehung beim Ausgehen gehört hatten. Die Geste war ironisch gemeint, aber wie jede Ironie hatte sie etwas Sentimentales– und da Nina weder für Ironie noch für Sentimentalitäten empfänglich war, starrte sie Alexander nur mit geschürzten Lippen an und lächelte nicht.
    Anstelle des Sex begann Alexander fernzusehen. Er sah, wie Jelzin rotgesichtig und betrunken und zunehmend inkompetent durch seine Amtszeit stolperte: Man mochte kaum glauben, dass er derselbe war, der einmal einen Staatsstreich niedergeschrien, der Russland vom Abgrund des Polizeistaats zurückgerissen hatte. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer sank – vor allem aufgrund der Alkoholismus- und Selbstmordraten – auf 58 Jahre. Das organisierte Verbrechen hatte die Hälfte aller Wirtschaftsbetriebe in der Hand. Spät abends lief Alexander in seiner Wohnung auf und ab und dachte über sein Land nach, das seine eigene Bedeutung überlebt zu haben schien. Darin, fand er, hatten sie etwas gemeinsam.
    Alexander verfolgte weiter die Schachberichterstattung; nachts, wenn Nina schlief, schlich er zu den immer kleiner werdenden Computern und besiegte gnadenlos die besten schlaflosen Schachgenies der Welt. Aufregung waberte durch die Onlineforen, wenn sie ihn an einer Verteidigung oder einer Eröffnung erkannten, und er spürte den Nachhall einer entscheidenden Wendung, wenn er daran zurückdachte, wie er selbst einmal die vielversprechenden Eröffnungszüge seiner Karriere und seines Lebens ausgeführt hatte. Jetzt hatte er alle in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllt, und ihm blieb nichts weiter zu tun, als die Zusammenkünfte der Online-Enthusiasten heimzusuchen. Seine Errungenschaften beim Schach kamen ihm vor wie die endlosen Erfolgsgeschichten sowjetischer Führungspersönlichkeiten, die er in der Schule eingetrichtert bekommen hatte.
    Im echten Leben spielte er selten. Peter Pawlowitsch arrangierte 1995 ein glanzloses Match im World Trade Center in New York. Alexander spielte gegen einen indischen Schachmeister und gewann mühelos. Der Sieg fühlte sich billig an, hohl, wie der Abklatsch eines Triumphes. Draußen konturierte zitronengelbes Lichtden Himmel. Die Zwillingstürme ragten mit unheilvoller Klarheit vor den blankgeputzten Fenstern auf.
    Danach hörte Alexander nur noch selten von Peter Pawlowitsch. Er hatte andere, um die er sich kümmern musste, wenn auch weniger als früher. Die FIDE war jetzt weniger mit der Bürokratie verbandelt – nicht mehr von der Korruption erstickt –, und es gab ohnehin weniger zu verlieren, weniger zu beweisen, weniger Hoffnung, den Kalten Krieg durch einen kulturellen Triumph, durch die vernichtende Überlegenheit im edelsten Wettstreit der Welt gewinnen zu können. Am Ende war es ein Wettstreit der Raketen und Diplomaten und des nationalen Stolzes, vor allem aber ein

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