Das Leben ist groß
Oder vielleicht hatte er darüber nachgedacht und sich edelmütig dagegen entschieden, hatte mit klarem Verstand, bewusstund mutig die Erniedrigungen des geistigen und körperlichen Verfalls als Bestandteil des Lebens in Kauf genommen. Oder vielleicht, vielleicht hatte er einfach zu große Angst. So oder so kam es mir nicht zu, darüber zu urteilen.
Ich sah den Frauen nach, die am Fluss entlang nach Hause eilten: Sie waren alle gleichermaßen dünn und trugen billige Kleider mit grellen Mustern. Unter ihren Mänteln schlugen, das wusste ich, winzige Kreuze gegen vorstechende Brustbeine.
Aber es fällt leicht, zu urteilen, wir sind dazu geschaffen; wir leben dafür. Indem wir urteilen, entscheiden wir uns für unser eigenes Selbst statt all der anderen, die wir hätten sein können. Ich jedenfalls urteilte mit Begeisterung und Freude, selbst über ihn, den Mann, dessen Lebenskatastrophe die genaue Vorlage meiner eigenen war – vielleicht ging ich mit ihm sogar besonders hart ins Gericht. Als ich jung war, dachte ich, dass ich genug Entschlusskraft aufbringen würde, um es zu tun, dass die vorherrschende Ethik und Ästhetik sich durchsetzen würden und dass, wenn man sich nur bewusst und rational zum Selbstmord entschloss, nicht mehr und nicht weniger als die universelle Katastrophe geschah – wenn man nur seine Handlungsfreiheit behielt, wenn das Bewusstsein das letzte Wort hatte, dachte ich, konnte ein Mensch nicht mehr von seinem Leben verlangen. Ich verurteilte ihn dafür, dass er es nicht getan hatte. Ich trug es ihm nach, als er schließlich vollständig verschwunden war und sich nicht mehr damit auseinandersetzen musste, und ich unterstellte ihm einen Mangel an Mitleid mit uns, einen Mangel an Ehrgefühl – nicht sein einziger Charaktermangel vielleicht und vermutlich nicht der größte, aber doch der, mit dem wir am längsten leben mussten und den wir daher nie vergessen würden. Der Mangel war sein Vermächtnis. Der Mangel war alles, was blieb.
Am Ufer der Newa sah ich einer älteren Frau nach, die ihre geistig behinderte Tochter im Rollstuhl vor sich her schob. Die Tochter trug Eyeliner, und ich musste daran denken, wie viel Mühe es gekostet haben musste, das wahr werden zu lassen – wie die Mutterden Stift angeleckt und mit dem Daumen die Wimpern der Tochter gehalten hatte.
Während ich das Versagen meines Vaters in harte Worte fassen konnte – seine Weigerung, auf die letzten kläglichen Augenblicke seiner Existenz zu verzichten; dass er sich gierig und klein an das Wenige klammerte, das übrig war –, während das meine Definition von Versagen war, hatte ich von Erfolg, das wusste ich selbst, eine sehr viel verschwommenere Vorstellung. Zumindest versuchte ich es zu vermeiden, meiner Mutter dieselbe Art Qualen zu verursachen, die mein Vater uns zugefügt hatte – den speziellen Schmerz, wenn man sich rasend nach dem Tod eines Menschen sehnt, den man einmal verzweifelt geliebt hat. Aber wenn ich ehrlich zu mir war, wusste ich, dass ich mit meiner Flucht etwas Ähnliches, nicht nachweislich Besseres tat. Glaubte ich denn wirklich, dass sie mich vergessen hatten? War ich wirklich so wenig selbstbewusst? Nein, war ich nicht. Jonathan würde eines Tages über mich hinwegkommen – er würde sich neu verlieben, würde neue Erinnerungen sammeln; diese Erinnerungen würden die Erinnerungen an mich überlagern und mich immer weiter in den Hintergrund drängen; Zeit würde vergehen, große Strecken Zeit, so viel Zeit!, und die Zeit, die er mit mir verbracht hatte, würde im Vergleich dazu immer kürzer werden, bis sie eines Tages vielleicht nebensächlich, anekdotisch wirkte. Aber ich wusste, dass dieser Tag noch nicht gekommen war, und fürs Erste hatte ich ihn schlichtweg traumatisiert. Und meine Mutter … Ich dachte nicht so schlecht über sie, dass ich mir eingebildet hätte, ich hätte ihr mit meiner Flucht einen Gefallen getan. Ich glaubte nicht, dass sie sich jetzt endlich entspannen, die Wärme Arizonas und die Liebe eines naiven Mannes in sich aufsaugen und das Leben genießen würde. Das alles tat sie hoffentlich auch, aber ich konnte nicht so tun, als seien die großen Schwierigkeiten wirklich überwunden. Dazu hätte es ein Ausmaß von groteskem Märtyrergehabe gebraucht, das nicht einmal ich aufbringen konnte. Nein, es ließ sich nicht romantisieren: Diese Reise war im Grunde ein Trotzanfall. Aber vielleicht ziehtWahnsinn eben Wahnsinn nach sich, und Irrationalität zeugt Irrationalität. Es
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